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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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mal, auch nur eine Rune sauber in glatten Granit zu ritzen!) als »Abk.« angelegt sind. Auch wir verstehen heute unsere zeitgenössischen Abkürzungen wie GmbH, GdL usw. ohne Probleme. Doch ist uns eben vieles der damaligen Vorstellungswelt nicht überliefert. Nahezu ausschließlich in der alten isländischen Literatur, den Sagas und den Eddas beispielsweise, eröffnet sich uns noch ein mehr oder weniger ungefilterter Blick auf das vorchristliche Weltbild – was uns diese Literatur heute so wertvoll und einzigartig macht. Und gerade in der Sagaliteratur findet sich so mancher detaillierte Hinweis, wie die Runen mit welchem Spruch zu ritzen seien und zu welchem Zweck. Nur um zwei eindrucksvolle Beispiele zu nennen: In der Grettis saga wirkt eine zauberkundige Frau namens Þuriður eine (wirksame) Todesrune gegen Grettir, wohingegen der ebenso kenntnisreiche Egill mit seinem eigenen Blut geschriebene Runen erfolgreich zur Neutralisierung von Gift in seinem Trinkhorn anwendet (Egils saga) – dem Protest moderner Chemiker zum Trotz.
    Nicht nur der genaue Sinn vieler Runentexte liegt für uns heute also zumindest teilweise im Dunkeln. In seriösen Werken werden daher immer nur Deutungsversuche mit entsprechender Begründung angegeben. Auch die Herkunft der Runenzeichen selbst und ihre eigenartige Anordnung ist nicht mit letzter Sicherheit geklärt, obgleich es einige Hypothesen gibt, die sie aus dem etruskischen, |409| griechischen oder lateinischen Alphabet herleiten wollen. Doch auch hier gibt ein alter isländischer Text genaue Auskunft: In der Älteren Liederedda, einer Sammlung von verschiedenen, in Versen gefassten Texten (»Liedern«) von enormer und eigenartiger Sprachschönheit, berichtet ein Lied u. a. davon, wie Odin sich durch Selbstaufopferung an der Weltenesche Yggdrasill der Runen bemächtigte (Runenlied, Vers 140). Odin – isländisch Óðinn – war unter anderem der Gott der Dichtkunst, und einer seiner zahlreichen Beinamen ist Hár –
der Hohe
, weswegen dieses Lied Hávamál –
Das Lied des Hohen
genannt wird.
    Mittelalterliche Texte sind, verglichen mit den älteren Inschriften, für uns heute viel verständlicher, da sie in lateinischer Sprache sogar christliche Gebetsformeln, wiederum Zauberformeln (wie Catweazles
»SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS«
) und literarische Textfragmente etwa aus den Carmina Burana wiedergeben. Zu dieser Zeit existierten die lateinische Schrift als Buchschrift und der Gebrauch der Runen als Epigraphik nebeneinanderher, bis auch für Letzteres, also für plakative Aufschriften, die Lateinschrift nach und nach die Oberhand gewann. Einer der bedeutenderen Runenfunde ist erst wenige Jahre her: Nach einem Brand in Bergens Altstadt fand man eine große Anzahl von Hölzchen, auf denen Alltagstexte in Runenschrift eingeritzt sind. Darunter sind unter anderem Handelsaufzeichnungen und kurze Geschäftsbriefe vertreten. Die Auswertung dieses Fundes dauert gegenwärtig noch an. Dies und die Tatsache, dass Runen regional zumindest als volkstümliches Alphabet verwendet wurden, lässt vermuten, dass ihre Kenntnis zumindest im Mittelalter und danach sich nicht auf einige wenige Schreibkundige beschränkte. |410| In sehr alten Texten (um das 6. Jahrhundert) hingegen taucht vor allem im skandinavischen Raum häufig das Wort
»erilaz«
auf, dessen Bedeutung nicht ganz klar ist. Es gibt aber Grund zu der Annahme, dass damit der Runenmeister gemeint ist. Oft unterschreibt er sozusagen den eigentlichen Text mit dem Hinweis, dass er diese Runen geschrieben hatte:
»ek erilaz runor wurhti«
: Ich, der Runenmeister, habe diese Runen gewirkt. Möglicherweise war es zumindest für nicht profane oder magische Zwecke dem
erilaz
vorbehalten, Schutz- und Abwehrzauber zu wirken (sehen Sie, wie sich der Sprachgebrauch offenbar bis in unsere Zeit herübergerettet hat?).
    Mit diesem kurzen Einblick in Wesen und Gegenstand der seriösen Runenforschung dürfte klargeworden sein, dass die Runen und die damit geschriebenen Texte ein wesentliches, länderübergreifendes Element der europäischen Kulturgeschichte darstellen. Sie gehören auch nicht ausschließlich der dunkelsten Zeit deutscher und europäischer Geschichte an, die bis heute zweifellos einen Schatten auf dieses uralte Kulturgut wirft. Mögen sie dem einen Ansporn sein, den Zeugnissen unserer eigenen Urahnen ein wenig nachzugehen, sind sie dem anderen vielleicht Orakel und Lebenshilfe und dem dritten, in einer neuen Tradition des Asenglaubens
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