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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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Melkorka südöstlich von Heimaey einige Felsschären in der Bucht Stakkabót passierte. Sie näherten sich den steilen Klippen des südlichsten Zipfels der Insel, |398| Stórhöfði. Wenn sie von dort losführe, würde sie auf ihrer Fahrt nach Süden über den endlosen Atlantik und über den halben Erdball erst wieder im Frost und Schnee der Antarktis auf Land treffen. Sie wendete das Boot in der sanften östlichen Brise und verringerte die Geschwindigkeit so weit, dass es gerade so gegen die Naturkräfte ankam, und überließ Kári das Steuer.
    Im Heck des Bootes zog sie eine Plastikhülle von einem viereckigen Holzkasten, den Kári aus Spanplatten zusammengezimmert hatte. Sie hatte alle Gegenstände hineingelegt, die sie unangenehm an das geheime Leben des Höskuldur Steingrímsson erinnerten: die schwarze Uniform, den Totenkopfring, die Notizbücher mit den Runenzeichen von Ahnenerbe auf der Vorderseite und – zerbrochen – die CDs mit den Kopien und Übersetzungen der Texte.
    Melkorka beugte sich nach der Urne, die zu ihren Füßen stand. Sie öffnete sie und verstreute die Asche ihres Großvaters über seine Hinterlassenschaft. Dann warf sie die Urne selbst ins Meer und sah ihr nach, wie sie in der Tiefe versank.
    Kári verriegelte das Steuer und ging hinter ins Heck zu seiner Frau. Er hob die Holzkiste hoch und legte sie neben dem Boot auf das Wasser. Dann nahm er einen Dreiliterkanister und goss Benzin über die Asche, die Kleidung und den gesamten Inhalt der Kiste.
    Melkorka zündete ein Sturmstreichholz an und warf es in den selbstgebauten Sarg des schwarzen Erbes. Als das Feuer sich in die benzindurchtränkten Kleider gefressen hatte, schob Kári das einfache, in hellen Flammen lodernde Totenschiffchen mit einem Bootshaken so weit weg von dem Fischerboot, wie er nur konnte.
    |399| Lange standen sie beide so über die Reling gebeugt, bis die blauen Tiefen des Meeres die wenigen Überreste der dunklen Vergangenheit Höskuldur Steingrímssons aufgenommen hatten, die das Feuer den Wellen zum Spiel überlassen hatte.
    Am Abend erhielt Melkorka eine Antwort von Susan, die nicht anders aufzufassen war als ein indirektes Eingeständnis:
    »
Endlich Gerechtigkeit. Acta non verba.
«
    Taten statt Worte also. Melkorka löschte die E-Mail, so wie sie auch alle anderen Mails, Artikel und Bilder gelöscht hatte, die mit der Sache um ihren Großvater zu tun hatten. Sie glaubte, so das schwarze Erbe nun endlich auf jede erdenkliche Weise in die unendlichen Tiefen ewigen Vergessens versenkt zu haben.
    |400| 89
    Donnerstag, 18. Oktober
    In der Nacht zu dem Wochentag, der heute noch in vielen Ländern dem Donnergott Þór (Donar) gewidmet ist, fuhren fünf schwarzgekleidete Männer vom Bootsschuppen in Hestvík in einem robusten Schlauchboot auf den Þingvallavatn hinaus.
    Die fünf Männer ließen sich nicht von dem unfreundlich herbstlichen Nordwind beirren, der dunkle Wolken wie eine scheue Herde über die weite Ebene von Þingvellir jagte. Sie steuerten auf direktem Wege Sandey an und warfen den Anker bei einer fast unsichtbaren eiförmigen Boje, die dort unter Wasser dümpelte. Der Kleinste aus der Gruppe zwängte sich in die enge, mit Technik vollgestopfte Kajüte und übernahm die Steuerung des Mini-U-Bootes. Zwei seiner Kollegen bereiteten sich mit Unterwasserscheinwerfern, Sendegeräten und einer Unterwasserkamera auf einen Tauchgang vor.
    Erdgeschoss und oberes Stockwerk des Sommerhauses in Hestvík waren hell erleuchtet. Auf einem großen Flachbildschirm im Aufenthaltsraum erschienen in Echtzeit übertragene Aufnahmen des kleinen U-Bootes. Langsam näherte es sich der Grotte am Grund des Þingvallavatn. Eine Frau in den Dreißigern mit bräunlich-rotem Haar, braunen Augen und vollen Lippen beobachtete die Fahrt. Dann nahm sie ihr Handy und wählte eine Nummer.
    |401| »Sie sind auf dem Weg«, sagte sie auf Englisch. »In ein paar Minuten solltest du per Satellit die ersten Bilder empfangen.«
    »Danke schön, Gretchen.«
    John Ramstein Melville hatte die einzigartige Fähigkeit seiner Halbschwester immer schon bewundert, sich neu zu erschaffen. Er selbst hatte sich von ihrem völlig veränderten Aussehen öfter als ein Mal täuschen lassen. Gretchen R. Stoner verfügte über die außerordentlich seltene natürliche Begabung, sich in genau die Person verwandeln zu können, in deren Haut sie jeweils zu schlüpfen vorhatte.
    Überdies war sie bei dem Besten ihres Fachs in die Lehre gegangen: bei ihrem gemeinsamen
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