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Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Lydia Joyce
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1. Kapitel
     
    Raeburn Court war ein Gebäudekomplex aus gesprenkeltem Kalkstein, der sich unschön und ausladend auf einem kahlen Hügel erstreckte. Lady Victoria erspähte es, als die Kutsche noch ein ganzes Stück entfernt war, und betrachtete es unverwandt, während sie sich dem Parktor näherten; die karge Landschaft hatte dem Auge schließlich nichts anderes zu bieten. Je näher sie kamen, desto vierschrötiger und hässlicher wurde das kauernde Herrenhaus, aus dessen sägezahnartigen Zinnen sich vereinzelte Turmspitzen willkürlich in den schiefergrauen Himmel bohrten.
    »Da soll ein Herzog leben?« Dyers ungläubige Frage spiegelte Victorias Überlegungen wider.
    »Passt gut zu ihm.« Victoria machte sich nicht die Mühe, ihren Ärger vor der Kammerzofe zu verbergen. Nach zweitägiger Fahrt, erst mit dem Zug von Bristol nach Leeds und dann fünf Stunden lang per Kutsche, kochte sie vor Wut.
    Beim bloßen Gedanken an den herrischen Brief, der sie praktisch nach Raeburn Court beordert hatte und jetzt in ihrem Damentäschchen steckte, ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie war in ihrem Zorn geneigt gewesen, in ihrer vertrauten Umgebung auf Rushworth Manor zu bleiben und ihren Bruder Jack im Schuldturm verrotten zu lassen, falls es so weit kam. Aber die Vorstellung, welche Schande das über ihre Familie gebracht hätte, spornte ihren Stolz heftiger an, als die Strafpredigt des Dukes ihren Zorn entfachte. Also hatte sie vorab geschrieben, einen Koffer gepackt, sich nach Bristol zum Bahnhof fahren lassen und das Protestgeheul und die gespielten Ohnmachtsanfälle ihrer Mutter ignoriert.
    Was die Reise bewirken würde, wusste sie nicht. In den Momenten finsteren Grübelns – und auf der Fahrt nach Raeburn Court gab es jede Menge davon – fürchtete sie, einer Illusion nachzujagen. Sicher, es gab die schwache Hoffnung, dass sie den Herzog überreden konnte, Vernunft anzunehmen. Sie versuchte, diese Hoffnung mit dem abzugleichen, was sie von ihm wusste. Den Gerüchten nach war er ein Mann, der die Dunkelheit liebte, ein Rätsel, ein Ausgestoßener, nicht seiner Taten wegen, sondern der Konventionen wegen, an die er sich nicht zu halten pflegte. Victoria erschauerte. Zwar wusste sie, dass die Wakefields die Schande überstehen würden, die Jack mit seiner Zahlungsunfähigkeit über die Familie brachte, doch der Gedanke an das unweigerliche Geflüster und das wissende Lächeln, das sie jahrelang verfolgen würde, trieb sie vorwärts. Sie hatte zu viel für ihre Ehrbarkeit bezahlt, als dass ihr Bruder sie ihr nehmen durfte.
    Sie erreichten das Pförtnerhaus. Es sah noch heruntergekommener aus als das Herrenhaus, mit fehlenden Fensterläden und Efeu, der wild über die Scheiben wucherte. Nur die dünne Rauchfahne, die sich zum Himmel kräuselte, wies es als bewohnt aus. Die Kutsche kam ruckelnd zum Stehen, der Kutschknecht öffnete die Tür und bot den Damen zum Aussteigen den Arm. Er brauchte nicht zu fragen, welche Gepäckstücke die ihren waren; sie waren in der Kutsche allein, seit, eine halbe Meile zuvor, ein Bauer und seine Frau in dem Dorf ausgestiegen waren, das zu Raeburn Court gehörte. Der Kutschknecht schwang den messingbeschlagenen Koffer und die Reisetasche vom Dach, nahm von Dyer sein Trinkgeld entgegen und kletterte ohne ein Wort auf den Kutschbock zurück.
    Als die Kutsche davonratterte, japste Dyer erschrocken. Victoria drehte sich um und sah einen gebeugten, verhutzelten Mann den Kopf durch die Vordertür des Pförtnerhauses strecken.
    »Lady Victoria?«, fragte er, während seine wässerigen Augen von einer Frau zur anderen wanderten.
    Victoria gestattete sich seiner Verunsicherung wegen ein kleines Lächeln. Ihr Reisekleid war aus feinem schwarzen Taft, doch die unerbittliche Strenge des Schnitts und das Fehlen jeglicher Verzierung machten es nicht leicht, einen Unterschied zur schlichten Aufmachung einer Zofe zu erkennen. Ihre Garderobe zeichnete sich nun schon seit fünfzehn Jahren durch ungebrochene Nüchternheit aus, anfangs aufgrund einer kindlichen Scheu, dann aus Selbstverachtung und mittlerweile zum Teil aus Gewohnheit und zum Teil wegen der Sicherheit, die eine derartige Kleidung bot.
    »Ja?«, sagte sie und befreite ihn aus seiner Zwangslage.
    Der Pförtner fixierte sie und zwinkerte kurzsichtig. »Seine Gnaden erwarten Sie im Haus, Mylady. Wenn Gregory heute Abend kommt, bringt er Ihr Gepäck.«
    »Und wie sollen wir zum Haus kommen?« Victoria zog eine Augenbraue hoch und gestikulierte
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