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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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lackierten Daumennagel auf.
    Höskuldur Steingrímsson hatte eine kurze Notiz auf Briefpapier des Hotel Borg geschrieben. Datiert auf den Vortag:
     
    Jetzt bin ich also nach Walhalla gegangen, meine liebe Melkorka. Sei Deinem Opa nicht böse. Denn so ist es am besten für uns beide. Der Krebs sitzt überall, auch in der Bauchspeicheldrüse, und in meinem Fall gibt es keine Hoffnung mehr. Der Arzt hat mir fünf oder sechs Wochen Qual und Schmerzen vorhergesagt. Man kann sie zwar mit Morphium lindern. Aber das ist nichts für mich.
    Als junger Mann wollte ich immer wie ein Wikinger leben und sterben. Lass mich nach nordischheidnischer Sitte verbrennen und meine Asche
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am südlichen Ende Heimaeys bei Stórhöfði in Ægirs Wogen streuen. Ich lege das Geheimnis meines Lebens vertrauensvoll in Deine Hände.
    |18| 3
    Einige Blutstropfen waren auf die schwarze Aktentasche gespritzt, in der Kriminalhauptkommissar Guðjón den Abschiedsbrief gefunden hatte. Ein kurz vor dem Rentenalter stehender Friedhofswärter hatte frühmorgens die Leiche entdeckt und die Polizei verständigt.
    In seiner Karriere als Polizist, die mittlerweile ein gutes Vierteljahrhundert umfasste, hatte Guðjón schon viele Tote zu Gesicht bekommen. Einige davon waren bei Verkehrsunfällen mehr oder weniger zerfetzt worden. Eine Leiche in einer solchen Uniform hatte er jedoch noch nie gesehen. Aus der roten Armbinde mit dem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund und den blutbespritzten Runenzeichen auf dem Kragen des schwarzen Hemdes schloss er sofort, dass der Tote eine SS-Uniform aus Nazideutschland trug. Das Gesicht der Leiche war von der Pistolenkugel übel zugerichtet worden. Sie hatte den Schädel durchschlagen, war unter der Mütze ausgetreten und im oberen Teil des Steinkreuzes steckengeblieben.
    Da der an Melkorka gerichtete Brief eindeutig und eigenhändig von dem Verstorbenen verfasst worden war, hatte Guðjón jetzt die Bestätigung dessen, was ihm schon am Schauplatz des Geschehens so offensichtlich erschienen war: Höskuldur Steingrímsson hatte Selbstmord begangen. Der Fall an sich war für die Polizei damit abgeschlossen. |19| Nur der Papierkram blieb noch zu erledigen. Aber warum hatte der Mann diese Art und Weise gewählt, um aus dem Leben zu scheiden? Und warum in dieser Uniform?
    Guðjón wusste, dass das für die weitere Aufklärung kaum noch eine Rolle spielte. Aber er ertrug es schwer, wenn Fragen zurückblieben, auf die er keine Antwort hatte. Sie pflegten ihm gerne tage- und wochen-, manchmal sogar monatelang im Kopf herumzuspuken, bis er endlich eine befriedigende Antwort fand. Oder wenigstens eine plausible Erklärung.
    Er räusperte sich erneut höflich.
    »Die nicht gerade alltägliche Kleidung, die dein Großvater bei seinem Tod trug, ist uns besonders aufgefallen«, erklärte er.
    »Ja«, antwortete Melkorka in Gedanken, ohne aufzublicken. »Opa hat immer Fliege getragen.«
    »Nein, diesmal nicht. Er trug eine Uniform der SS.«
    Melkorka lehnte sich zurück, wie sie es bei ihrer Arbeit für das Fernsehen gewohnt war, wenn sie die Antwort eines Befragten nicht ganz verstanden hatte. Dabei hob sie ihre üppigen Brüste etwas an, die beständig einen Weg durch den tiefen Ausschnitt ihrer engen Bluse zu suchen schienen.
    »SS-Uniform?«, wiederholte sie unsicher. »Meinst du so wie die Würstchenverkäufer in der Werbung für
Schlachthaus Südislands

    Guðjón sah sie mit unbewegter Miene an, blickte in die tiefen, blaugrünen Augen und auf den Busen, der Umfragen zufolge den Anteil von Männern mittleren Alters unter den Zuschauern der abendlichen Zehnuhrnachrichten |20| um mindestens zwölf Prozent gesteigert hatte. Wie weit eigentlich ging die Ahnungslosigkeit der jüngeren Generation, die vor dem verflixten Fernseher aufgewachsen war?
    »Nein«, versetzte er trocken. »Dein Großvater trug eine Uniform der deutschen nationalsozialistischen SS …«
    »Nazis?«, rief Melkorka.
    »… als er sich am Kriegerdenkmal für die deutschen Soldaten erschoss, die im Zweiten Weltkrieg in den isländischen Hoheitsgewässern gefallen waren. Es steht auf dem Friedhof in Fossvogur.«
    »Das kann ich nicht glauben.«
    »Hast du irgendeine Erklärung, warum dein Großvater sich diesen Aufzug ausgesucht hat?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Das ist ja auch in Ordnung«, mischte sich Erna in das Gespräch ein, bevor der Hauptkommissar weitere Fragen stellen konnte. »Weswegen sich Höskuldur so angezogen hat, spielt für die
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