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Der mieseste aller Krieger - Roman

Der mieseste aller Krieger - Roman

Titel: Der mieseste aller Krieger - Roman
Autoren: Aufbau
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Paitanás, 19. September 1939
    Das Schrillen des Glockenweckers konnte das Paar nicht mehr aus dem Schlaf reißen, denn es war schon tot. Der Strauß Rosen lag über das Bett verstreut, die seidigen Blütenblätter umgaben die hingestreckte Engländerin, die Inglesa. Ihr Engelsgesicht sah aus wie von Pollen bedeckt, und ihre Schlangenaugen waren auf das Grauen gerichtet. Sofanor saß in einer Ecke des Zimmers. Der feine Blutfaden, der sich aus dem Loch in seiner Stirn zog, war bereits getrocknet, und unter dem Schnurrbart hatte sich sein frisches Lächeln bewahrt. In der Atacamawüste erzählt man sich seither diese Geschichte, ihre Geschichte, die sich während der Nationalfeierlichkeiten ereignete. Viele halten sie für eine Legende, aber sie hat sich tatsächlich zugetragen.
    Ich habe alles in meinem Gedächtnis gespeichert, Benito, und ich werde dir diesen ganzen Mist erklären, der uns umgebracht hat. Die Zeit verging wie im Flug und vernebelte uns die Sicht mit ihrem Staub; schweigend wie im Stummfilm zog sie vorüber, was mich nervös machte. Du ahnst noch nicht, wem die Stimme gehört, die da zu dir spricht, doch ich sehe deine losen Blätter, die verstreuten Bücher und das Heft unter deinem Kopfkissen – alleswirkt wie von einem Erdbeben durchgeschüttelt. Ein einziges Chaos herrscht in deinem Zimmer, Benito, abgesehen von dem Foto, das an der Wand hängt. Es zeigt einen Mann in tadelloser Uniform und mit einem stillen Bärtchen; er war es, der dich damals mitnahm. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Wie gesagt, es war ein Ereignis, von dem die Besucher der Pension noch heute sprechen. Die Ermordung des Paares verhalf dem Chanchoquín zu einer gewissen Berühmtheit. Von da an schoss der Preis dieses Zimmers in die Höhe. Die morbide Neigung der Hauptstädter, einmal am Ort des Verbrechens zu übernachten, bescherte der Ojerosa einige Gäste.
    Die Toten brannten darauf, aus der Erde aufzusteigen, um zu tanzen. Sie brauchten das Orchester und die Jungs aus der Schule, die dem Umzug folgten. Durch Straßen, in denen sich ein paar alte Häuser, die Backsteinfassaden mit Zement und Farbe verkleidet, dem von den vielen Erdstößen rissigen Pflaster zuneigten. Und während ein Geier langsam und sicher an einem wolkenlosen Himmel kreiste, probten sie glühend ihren Aufstieg aus der Hölle. Mit wahnhaftem Blick streckten sie die Beine, vollführten Luftsprünge, immer dem Trompeter nach, der beim Blasen seine roten Backen aufpumpte. Der weiße Salpeterstaub stob zwischen den sich im Tanz windenden Geistern auf und verwandelte sich in wirbelnde Staubwolken, die den Schatten der Lebenden folgten. Das einfache Volk, dunkel wie der Kautschuk, tanzt nur in der Benommenheit des Schnapses. Denn es lebt gefangen in seinem versteinertenWillen und macht, das Hirn von der Sonne versengt, nicht die geringsten Anstalten, sich gegen die Machthaber aufzulehnen. Nur manchmal erhascht es einen Blick auf den roten Schein des Fegefeuers.
    Die Musik der Trommeln, Becken und Trompeten auf der Straße hatte den Schuss übertönt, und alle zogen sich spät zurück, um schlafen zu gehen. Die Ojerosa vom Chanchoquín hätte wohl aufbleiben müssen, um zu wachen, während die Landsleute ruhten, doch dann wurde sie vom Schlaf übermannt, bis um halb sechs ein Wecker scheppernd Alarm schlug. Die Witwe des italienischen Musikers riss die Augen auf. Dann erhob sie sich und drückte ihr weißes Haar mit einem Wolltuch platt. Noch schlaftrunken verstand sie nicht, warum keiner dieses ohrenbetäubende Ding zum Schweigen brachte. Und nachdem sie laut klopfend an der Tür gerüttelt hatte, beschloss sie, den Schlüssel von der Rezeption zu holen. Während sie mit langen Schritten durch den Flur eilte, dachte sie, Sofanor und die Inglesa seien schon früher aufgebrochen und hätten diesen verfluchten Wecker vergessen – doch dann trat sie über die Schwelle. Das schrille Rasseln hatte auch andere Pensionsgäste herbeigelockt, und die Ojerosa wusste nicht, ob sie zuerst den Wecker abstellen oder López-Cuervo II rufen sollte, den Offizier der Carabineros, diesen Sohn des Satans.
    Als ich die beiden sah – ich war die zwei Straßen hergerannt –, hielt ich wie erstarrt inne, wortlos. Ich konnte keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, während ichversuchte, den Anblick zu verdauen. Ich war viel mit ihnen zusammen gewesen, hatte sie sogar das eine oder andere Mal auf einen Raubzug begleitet, so dass sie fast schon zur Familie gehörten. Doch das
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