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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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Zeitschrift in Griffweite, und den Leuten um sich herum bei Arbeit und Vergnügen zuzusehen.
    An der Haltestelle Kringlan blieb sie dann aber im Bus sitzen, bis er in der Stadtmitte bei Lækjargata hielt. Dort schlenderte sie an Restaurants und Geschäften vorbei, machte kurz am Kolaportið halt und nahm dann die Vesturgata Richtung Stadtrand.
    Helga hatte Steingrímur Höskuldsson, Melkorkas Vater, auf einer Kneipentour kennengelernt, in ihrem dritten Jahr des Bibliothekarsstudiums an der Universität Islands. Er studierte Geologie und erklärte ihr das isländische Hochland, die Vulkane, Gletscher und die weiten Landschaften mit einer Begeisterung, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Im darauffolgenden Frühjahr, als sie sich nach abgeschlossenem Studium exmatrikulierte und in der Stadtbücherei Reykjavík eine Stelle antrat, bezogen sie zusammen eine Mietwohnung nahe am Hafen. Sie genossen die |33| Freiheit, waren jung und gesund. Ehe sie sich’s versah, fand sie sich wieder in einer ihr vorher unbekannten Welt, in der man die Konfrontation mit der ungebändigten Natur suchte und den entfesselten Wetterhexen in monströsen Geländewagen und kraftvollen Motorschlitten die Stirn bot. Das Dasein nahm jetzt oftmals Züge einer wilden Achterbahnfahrt an, in der gelegentlich das Leben selbst auf dem Spiel stand.
    Doch niemand kann die Naturgewalten dauerhaft herausfordern, ohne irgendwann dafür zu bezahlen. Sie war auf einer schicksalhaften Expedition auf dem Gletscher Vatnajökull dabei gewesen, als ein eiskalter Nordsturm mit mörderischem Frost und dichtem Schneetreiben über die Gruppe hereinbrach. Sie sahen die Hand vor Augen nicht mehr, und Steingrímurs Motorschlitten stürzte in eine tiefe Gletscherspalte. Als sie ihn nach mehrstündigen Bergungsversuchen in heftigem Sturm endlich aus dem eiskalten Schlund heraufholen konnten, war er tot. Das war vor dreizehn Jahren passiert.
    Helga war mit Melkorka zu ihren Eltern nach Akureyri gezogen, wo das Leben wieder eine neue Richtung einschlug, als sie den Bankdirektor Guðbrandur Hjaltason kennenlernte, ihren jetzigen Ehemann und Melkorkas Stiefvater. Er hatte mehr Interesse an den Pferden in der Umgebung der Stadt, als mit Motorschlitten über das Hochland zu jagen. So hatte Helgas Leben allmählich in eine andere, langsamere Gangart geschaltet.
    Als sie Steingrímur das erste Mal traf, hatte er zu seinem Vater Höskuldur wenig Kontakt gehalten, eigentlich fast nur zu großen Festen. Steingrímur fuhr zu diesen Gelegenheiten mit der Fähre Herjólfur hinaus nach Heimaey und |34| blieb einige Tage lang beim Meister, wie er seinen Vater zu nennen pflegte. Tatsächlich hatte Helga ihren zukünftigen Schwiegervater zuerst über das Telefon kennengelernt. Sie war allein zu Hause gewesen, als Höskuldur seinen Sohn hatte sprechen wollen. Sie hatten einige Höflichkeiten ausgetauscht. In dem Sommer aber, als sie schwanger wurde, war Höskuldur unerwartet zu Besuch gekommen und hatte sich liebevoll um sie gekümmert. Danach war Helga ein selbstverständliches Mitglied der Familie gewesen und hatte jedes Jahr im August mit Steingrímur und Melkorka das Sommerfest auf den Westmännerinseln besucht und war manchmal auch im Dezember mitgekommen, um Weihnachten auf Heimaey zu feiern.
    Steingrímur hatte seine Mutter nur selten erwähnt. Er erzählte lediglich davon, dass sie sofort nach der Geburt verstorben und er bei seinem Vater Höskuldur und dessen Haushaltshilfen aufgewachsen war. Diese Frauen hausten in einem bescheidenen Kellerzimmer, kümmerten sich um die Kindererziehung und erledigten für Höskuldur die tägliche Hausarbeit. Höskuldur unterrichtete in der Grundschule, bis er mit etwa siebzig aus Altersgründen den Dienst quittiert hatte. Im Sommer war er mit seinem Fischerboot regelmäßig aufs Meer hinausgefahren.
    Wehmütige Trauer und Nostalgie rangen in Helgas Brust miteinander, als sie an dem alten grauweißen Wohnhaus vorbeiging, in dem sie das Leben und die Liebe mit leidenschaftlicher Hingabe und tieferer Freude als jemals danach genossen hatte.
    |35| 8
    Eine Weile saß Melkorka regungslos auf dem Fahrersitz ihres Sportjeeps an der Borgartún und betrachtete den Inhalt der Tasche: zwei Päckchen und ein zugeklebter weißer Umschlag. Die Päckchen waren in dunkelbraunes Packpapier gewickelt und mit einer starken, über Kreuz gelegten Schnur zugebunden. Das eine hatte die Größe eines Taschenbuchs. Das andere war viel kleiner.
    Sie schloss die Tasche
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