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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Autoren: C. E. Lawrence
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KAPITEL 1
    Der Anruf kam vollkommen überraschend und aus heiterem Himmel. Lee Campbell fühlte sich so überrumpelt, dass er kaum ein Wort herausbrachte. An einem Freitagabend rechnete er nun wirklich nicht mit Anrufen von ehemaligen Patienten – und erst recht nicht mit einem Anruf von dieser ehemaligen Patientin.
    »Spreche ich mit Dr. Lee Campbell?« Hohe Stimme, die Worte gehaucht, wie bei einer schlechten Marilyn-Monroe-Imitation. Er wusste sofort, wer dran war.
    »Mmh … ja.« Ja, Ana, hätte er am liebsten gleich geantwortet, aber ein Teil von ihm hoffte noch, dass sie es vielleicht doch nicht war. Aber natürlich war sie es.
    »Hier ist Ana Watkins.«
    »Ah … ja … hallo, Ana. Wie geht es Ihnen?« Dank seiner Professionalität schaffte er es, seine Stimme fest klingen zu lassen – das hoffte er zumindest.
    »Ich bin unten – kann ich zu Ihnen raufkommen?«
    »Unten?«
    »Im McSorley’s.«
    Wie hat sie herausgefunden, wo ich wohne?
    Als hätte sie seine Gedanken gelesen, erklärte sie: »Sie stehen mit Adresse im Telefonbuch.«
    Das stimmte zwar nicht, aber bitte sehr. Dass er seine private Praxis aufgegeben hatte, wie er ihr mitteilte, störte Ana nicht. Sie versicherte, dass es ihr nur um ein kurzes Gespräch ginge, die Sache aber sehr wichtig sei.
    »Bitte, Lee. Ich würde Sie wirklich nicht darum bitten, aber …«
    Aber was ? überlegte er verärgert. Hast du mir damals nicht schon genug Ärger gemacht?
    »Ich komme runter ins McSorley’s.«
    »Hier ist es zu laut«, erwiderte sie. Er hörte Gläserklirren und Gelächter im Hintergrund. In der Kneipe war es am Freitagabend immer laut.
    Er sah zur Uhr. Gerade kurz nach sechs.
    »Um sieben bin ich zum Essen verabredet.«
    »Es wird bestimmt nicht lange dauern … versprochen.«
    Lee schaute durchs Fenster hinunter auf die Straße. Es war August, aber dennoch peitschte ein kalter Regen die Äste der Bäume auf der East Seventh Street. In der Scheibe erkannte er sein eigenes schemenhaftes Spiegelbild – lockiges schwarzes Haar, kantiges Gesicht, fester Blick aus tief liegenden Augen. Er wusste, dass viele Frauen ihn attraktiv fanden und wünschte nur, ausgerechnet Ana Watkins wäre keine von ihnen.
    Am liebsten hätte Lee sich einen Scotch genehmigt, entschied sich aber dagegen – für dieses Gespräch brauchte er einen vollkommen klaren Kopf. Als es klingelte, holte er einmal Luft und ließ dann die Haustür aufsummen.
    Ana erklomm die Treppe leichtfüßig und schnell. Lee öffnete die Wohnungstür und zwang sich zu einem Lächeln. Als sie hereinkam, umgab sie eine Wolke von Flieder. Kaum nahm er den Geruch des Parfüms wahr, kehrten mit ihm alle Erinnerungen an jene Zeit in seinem Leben zurück. Das schien alles schon so lange her zu sein.
    Ana hatte sich wenig verändert – groß, dünn und unnatürlich blass sah sie fast aus wie ein Albino. Dass sie nicht tatsächlich an Albinismus litt, hatte sie Lee gleich in der ersten Therapiestunde gesagt, dennoch fehlte ihrer hellen Haut jede normale Pigmentierung. Sie wirkte wie dünnes Papier. Ana war nicht wirklich hübsch – dafür waren ihre Nase zu groß und die Lippen zu schmal – trotzdem fiel sie Männern auf, was sie auch wusste.
    Mit nervösem Blick sah sie sich in der Wohnung um und registrierte dabei wahrscheinlich jedes kleinste Detail. Ihr IQ lag bei 160. Das behauptete sie zumindest. Vielleicht war es aber auch nur eine der üblichen Geschichten, die sie sich ausgedacht hatte, wie so vieles, was sie ihm erzählt hatte. Sie war eine seiner ersten Patienten gewesen, und damals war er noch nicht so versiert darin, die zahllosen Lügen und Märchen sofort zu durchschauen, die narzisstische Persönlichkeiten gern auftischten. Trotzdem war es zweifellos richtig, dass Ana intelligent war, sehr intelligent sogar. Die Therapiestunden mit ihr mochten frustrierend gewesen sein, langweilig waren sie nie.
    Sie schlüpfte aus dem grauen Regenmantel und hielt ihn Lee am ausgestreckten Arm hin, weil sie automatisch erwartete, dass er ihn ihr abnahm. Das passte zu ihr. Ihre Hilflosigkeit hatte stets etwas Aggressives gehabt, und sie konnte selbst eine kleine Geste wie das Ausziehen des Mantels zu einer Forderung inszenieren. Daran hatten offenbar auch jahrelange Therapien nichts geändert. Lee unterdrückte ein Seufzen, nahm den Mantel und hängte ihn an den antiken Kleiderständer, den seine Mutter für ihn gekauft hatte.
    »Haben Sie einen Kaffee für mich?«, fragte Ana, rieb sich die dünnen
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