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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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du dir das Ziel hoch genug setzen und alles Notwendige tun, um es auch zu erreichen. Du musst nicht nur jede einzelne Gelegenheit ergreifen. Du musst dir die Chancen selbst erschaffen. Wenn du Erfolg haben willst, brauchst du einen eisernen Willen, besonders dann, wenn dir der Wind ins Gesicht bläst.«
    Melkorka vergaß diese Worte ihres Vaters nie. Zwei Jahre später war Steingrímur bei einem Unfall ums Leben gekommen, als sein Motorschlitten auf den Gletscherweiten des Vatnajökull in eine Eisspalte gestürzt war. Melkorka begann, sich einen starken und konzentrierten Willen anzutrainieren, um vorwärtszukommen und Anerkennung zu erhalten. Mit allem, was sie tat, wollte sie die Karriereleiter Sprosse um Sprosse nach oben steigen und ihre Präsenz pflegen.
    Bevor sie sich schlafen legte, warf sie noch einen kritischen Blick auf die Fotos, die das Interview im
Neuen Leben
begleiten sollten. Die meisten waren so weit in Ordnung, da sie ihre Kleidung selbst ausgesucht hatte. Ebenso den Visagisten, der ihr selbstbewusstes Gesicht mit Make-up unterstrichen und das lange, rubinrote Haar frisiert hatte. Auf den Familienbildern hielt sie ihren Sohn Höskuldur Darri im Arm. Ihr Mann, der Speerwerfer und Privattrainer |14| Kári Sigurvinsson, der vor ein paar Jahren zwei Mal zum Sexiest Man Islands gewählt worden war, hatte ihr den Arm liebevoll um die nackten Schultern gelegt, und seine blauen Augen lächelten direkt in die Kamera.
    Sie waren das Traumpaar der Fernsehprominenz.

    Am folgenden Morgen war Kári mit ihrem knapp einjährigen Sohn gerade zur Tagesmutter im Stadtteil Kópavogur aufgebrochen, als es an der Tür läutete.
    Melkorka hatte die Kaffeetasse auf dem Küchentisch abgestellt und hielt das
Morgunblaðið
noch in der Hand, als sie die Wohnungstür öffnete.
    Vor ihr stand ein schlanker Mann mittleren Alters und mit naturgewelltem Haar, der sie aufmerksam musterte. Und ein wenig dahinter eine blonde Frau, schätzungsweise um die dreißig.
    »Wir sind von der Polizei«, sagte der Mann mit gewichtigem Unterton. »Kriminalhauptkommissar Guðjón Andreas Baldvinsson und Kriminalkommissarin Erna Sól Hafsteinsdóttir. Dürfen wir reinkommen?«
    »Wozu?«
    »Ich schätze, es ist für uns alle angenehmer, die Angelegenheit drinnen zu besprechen.«
    »Also gut«, antwortete Melkorka. Sie warf einen Blick auf ihre feingearbeitete goldene Uhr. »Ich muss aber in ein paar Minuten aus dem Haus.«
    Sie bat die Besucher in den großen, hellen Vorraum.
    »Wir haben heute morgen diesen Brief gefunden«, fuhr Guðjón fort und zeigte ihr einen länglichen weißen Umschlag. » |15| Er ist an dich adressiert. Erkennst du die Handschrift?«
    Melkorka nahm den zugeklebten Umschlag entgegen. Ihr Name und ihre Adresse waren handschriftlich darauf vermerkt.
    »Woher hast du den?«, fragte sie verwundert.
    »Kennst du die Handschrift?«, wiederholte der Polizeibeamte.
    »Ja. Das ist die meines Großvaters. Er wohnt auf Heimaey.«
    »Wie heißt er?«
    »Höskuldur Steingrímsson.«
    »Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
    »Gestern Abend. Wir haben uns zum Essen getroffen. Er hat seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert.«
    »Wo war das?«
    »Großvater übernachtet immer im Hótel Borg, wenn er nach Reykjavík kommt. Er ist nur auf einen Sprung rübergekommen. Er wollte vor heute Abend wieder dort zurück sein.«
    Erna hörte Melkorka aufmerksam zu und beobachtete ihr Mienenspiel. Melkorka wiederum fand ihren forschenden Blick seltsam.
    »Was ist los?«, fragte sie besorgt.
    Guðjón räusperte sich.
    »Willst du dich nicht lieber setzen? Ich glaube, das wäre günstiger.«
    Melkorka blickte die beiden abwechselnd an. Allmählich formte sich in ihr die Überzeugung, dass ihr die Polizisten eine schlechte Nachricht überbringen wollten. Mit der Zeitung in der einen und dem Brief in der anderen |16| Hand ging sie, gefolgt von den beiden Polizisten, in die Küche zurück und setzte sich an den Tisch. Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden.
    »Opa ist doch wohl nicht tot?«
    »Leider ist es so«, antwortete Guðjón ruhig. »Vermutlich erklärt Höskuldur in dem Brief an dich genauer, was passiert ist.«
    Melkorka sah den Beamten an. Das Unbehagen in ihrem Magen wurde immer bohrender.
    »Soll das etwa heißen, Opa hätte sich umgebracht?«
    »Es weist einiges darauf hin. Willst du den Umschlag nicht vor uns öffnen?«
    Melkorka legte die Zeitung auf den Tisch, drehte den Brief um und schlitzte ihn mit dem sorgfältig rosa
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