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Immer Schön Gierig Bleiben

Immer Schön Gierig Bleiben

Titel: Immer Schön Gierig Bleiben
Autoren: Rob Alef
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    Endstation Stralau. Franz Grellert lenkte den Bus auf die Wendeschleife. Der Motor erstarb, und pfeifend öffnete sich die vordere Tür. Die Luft eines neuen Tages strömte herein, kühl mit leicht süßlichem Nachgeschmack. Auf der Ablage hinter der riesigen Windschutzscheibe lagen ein druckfrisches Exemplar der BZ und ein zerlesenes Buch:
Die Vogelwelt unserer Heimat
.
    Grellert stieg aus. Legte den Kopf nach links und nach rechts, dass es knackte, zog die Schultern hoch zu den Ohren, streckte die gebräunten Arme nach links und rechts und machte kreisende Bewegungen.
Erste Fahrt, Geisterfahrt
, dachte er. Geisterfahrt, das war eine Tour, bei der der Bus fast leer blieb. Die Nachtschicht – Touristen und Partygänger – war schon im Bett, und die Frühschicht – Krankenschwestern und Bäckereiverkäuferinnen – tröpfelte nur allmählich herein. Also hatte Grellert den beinahe menschenleeren Bus 104 durch beinahe menschenleere Straßen gesteuert, dreiundfünfzig Stationen lang von Westend bis nach Treptow. Die erste Tour des Tages, 4.45 Uhr Brixplatz ab, 5.43 Uhr Stralau an. Jetzt hatte er Pause.
    Im Osten der kleinen Halbinsel lag die Rummelsburger Bucht, im Westen floss träge die Spree vorbei. Vorsichtig machte Grellert ein paar Kniebeugen, stellte sich auf die Zehen und streckte sich bis in die Fingerspitzen. Er war schlank und drahtig, aber wenn seine Gelenkknochen knackten, hatte er das Gefühl, man konnte das Geräusch auf ganz Stralau hören.
    Er schloss die Augen und lauschte der Nachtigall.
Luscinia megarhynchos
saß nur ein paar Meter von ihm im Geäst, unsichtbar und unüberhörbar, modulierte und tirilierte unbeirrt vom Lärm der Bagger auf dem gegenüberliegenden Flussufer. Er hörte leise Schritte und öffnete die Augen. Auf der anderen Straßenseite spazierte die alte Frau vorbei, Strickjacke über Kittelschürze, dünne Beine, dünne graue Haare in einem Dutt. In der Hand einen grünen Plastikeimer, darin Arbeitshandschuhe und Gartengerät. Wenn sie kam, dann immer nur mittwochs und immer ganz früh. In der ersten Pause, um viertel vor sechs. Sie würdigte ihn keines Blicks und überquerte die Straße. An der Tür zu dem kleinen Friedhof nestelte sie einen Schlüssel hervor, trat ein, schloss lautlos die Tür und verschwand zwischen den Grabsteinen. Der Friedhof lag direkt am Wasser. Gegenüber, am anderen Ufer der Spree, zog sich kilometerlang die Treptower Halde. Von dort stieg der süßliche Geruch auf und kam nach Stralau.
    Durch die Bäume sah Grellert einen der großen Bagger. Rund um die Uhr steuerten die Boote aus dem Umland die Treptower Halde an. Gerade lag ein großes Transportschiff an einem der Kais, an dem früher die Ausflugsdampfer angelegt hatten. Der Bagger grub seine Schaufel tief in den Laderaum. Bunte Fitzel flogen links und rechts aus der Schaufel und landeten im Wasser. Der Schwenkarm bewegte sich Richtung Land, und Metall schabte kreischend auf Metall. Über der Halde kreisten einige Exemplare
larus ridibundus
. Die Lachmöwen schrien nicht und lachten nicht, solange die Sonne noch nicht aufgegangen war. Als wollten sie die Nachtruhe halten. Anders die Nachtigall. Grellert suchte das Unterholz nach ihr ab, obwohl er wusste, dass es bei diesen Lichtverhältnissen unmöglich war, sie zu entdecken. Er hätte ein Nachtsichtgerät gebraucht. Wo war das Tier? Die Tunnelstraße, an der sich die Endhaltestelle für zwei Buslinien befand, bildete die Längsachse von Stralau und zog sich bis zum Park an der Südspitze der Halbinsel. Östlich der Tunnelstraße waren in den letzten Jahren neue Wohnblöcke entstanden, westlich davon gab es eine Grünanlage mit Bäumen und Büschen und den Friedhof. Stralau war eine Enklave für junge Familien, die sich den Wasserblick leisten konnten. Spielplätze und Bootswerften, Schaukeln und in den Gärten aufgebockte Jollen bestimmten das Bild.
    Grellert hatte eine erwachsene Tochter und – beinahe noch wichtiger – zwei Enkelkinder. Die beiden Jungs waren jetzt vier und sechs Jahre alt, und ihretwegen hatte er sich das Rauchen abgewöhnt. Früher hatte er in den Pausen immer eine geraucht, jetzt machte er seine Freiübungen. Seine Kniescheiben knirschten fast so laut wie der Bagger. Nicht wegen der Knie, wegen seiner Bandscheiben war er zur BVG, zu den Verkehrsbetrieben gegangen.
    Früher war Grellert Fernbusfahrer gewesen. Auf großer Fahrt durch Europa: Odessa, Nordkap, Sagres. Und dann sogar ein Jahr in Afrika. Immer der Nase nach durch
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