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Wer im Trueben fischt

Wer im Trueben fischt

Titel: Wer im Trueben fischt
Autoren: Mechthild Lanfermann
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Bremen, im März
    I hr rechter Fuß war eingeschlafen. Vorsichtig streckte sich das Mädchen und schüttelte ihn. Es kribbelte wie tausend Ameisen. Sie horchte nach draußen, hörte aber nur einen Traktor weit entfernt über die Felder tuckern. Ein leichter Güllegeruch hing im Raum. Die Bauern düngten die Felder.
    Das Mädchen prüfte, ob der Fuß das Gewicht des Körpers halten konnte, und trat aus der Nische. Noch einmal blieb sie stehen und lauschte. Nur der Traktor. Sie musste auf die Toilette, traute sich aber nicht, quer über den Hof zu laufen, sie wollte weder vom Hausmeister noch von einem verspäteten Lehrer gesehen werden. Sie machte einen Schritt auf die schwere Brandschutztür der Turnhalle zu und zog mit aller Kraft. Knarzend öffnete sich die Tür. Das Mädchen erstarrte, horchte, aber alles blieb still. Sie schlüpfte in die Halle und stemmte sich gegen die Tür, die langsam zurück ins Schloss fiel.
    In der kleinen Turnhalle mischte sich der Güllegeruch von den Feldern mit dem Geruch nach Schweiß, Gummi und Putzmitteln. Die Sohlen der Turnschuhe quietschten, als das Mädchen quer durch die Halle zur Materialecke ging. Sie zog ein Springseil aus der Halterung und kletterte auf den Matratzenwagen. Rund dreißig Matten waren hier gestapelt, die eine oder andere ragte aus dem Stapel heraus. Die Vorsprünge dienten dem Mädchen als Stufen. Oben angekommen, richtete sie sich vorsichtig auf und legte das Seil in Schlaufen zusammen. Als sie das Gefühl hatte, mit beiden Beinen sicher zu stehen, blickte sie nach oben. Die Decke war niedriger als im Hallenbereich. Rund zwei Meter über dem Kopf des Mädchens war ein Stangengerüst montiert. Darauf lagerten die Sportlehrer die Hockeyschläger. Das Mädchen wog das Seil locker in der Hand und warf es dann zum Gestänge hoch. Fünf Versuche waren nötig, bis sich eine Schlaufe um die Stangen legte. Sie fasste die beiden Enden des Seils und verknotete sie.
    Prüfend legte sie sich mit dem ganzen Gewicht auf das Seil. Der Knoten hielt der Belastung stand. Das Mädchen nahm das eine Ende und knüpfte eine Schlinge. Sie hatte die Öffnung klein gewählt und musste ihren Kopf mit Mühe hindurchzwängen. Einen Augenblick stand sie still. Dann kniff sie die Augen zusammen und machte einen Schritt vom Mattenwagen ins Leere.

Berlin, Oktober. Ein halbes Jahr später
    A m Eröffnungsabend der neuen Universität betrat der Professor als einer der ersten den Festsaal.
    Bei wichtigen Treffen zog er es vor, früh da zu sein. Damit ersparte er sich die Blicke, wenn er mit seinem schleppenden Gang den Raum durchquerte.
    Weiter hinten entdeckte er ein paar Bekannte. Der Weg war lang für ihn. Als er es endlich geschafft hatte, hob er grüßend die Hand, um sie beim Fallenlassen unauffällig über die Stirn zu wischen. Die Runde begrüßte ihn respektvoll. Ein Kollege, den er von früher kannte, reichte ihm ein Glas Champagner.
    Der Professor hatte viele Kontakte. Bei einem Mann mit seinem beruflichen Renommee blieb das nicht aus. Aber in einer Gruppe von Leuten, die vielleicht seinen Namen, nicht aber sein Handicap kannten, überfiel ihn die alte Scheu.
    Bei einem Treffen unter vier Augen konnte er leichter über seine Behinderung sprechen. Kinderlähmung, sagte er sofort, wenn der Blick auf seine Beine fiel. Dann machte er einen Witz, um dem anderen aus der Verlegenheit zu helfen. Dabei achtete er darauf, nicht bitter zu klingen.
    Der Kollege erzählte gerade von seinen Berufungsverhandlungen mit dem neuen Präsidenten der Universität. Der Professor nickte, lächelte und nippte in Abständen an seinem Glas Champagner. Was er wohl als Gehalt kriegt, dachte er und fragte sich, ob er selbst zu schnell unterschrieben hatte. Als er den Kopf vom Glas hob, begegnete er dem Blick einer Frau aus der Runde. Sie war kaum jünger als er, hatte dunkles Haar und trug einen flaschengrünen Anzug. Sie lächelte ihm zu, und es schien ihm, als habe sie eben dasselbe gedacht wie er.
    Im Laufe der nächsten Stunde füllte sich der Saal.
    Die Mitarbeiter standen um hohe Tische gruppiert und aßen von den Häppchen, die Kellner auf Silbertabletts durch den Raum trugen. Bekannte trafen sich wieder, neue Kollegen wurden vorgestellt.
    An diesem Abend des Kennenlernens, noch bevor die Arbeit losging, gab es Momente, in denen sich der Professor als Teil des Ganzen fühlte. Und das machte ihn zu einem glücklichen Mann.
    Jeder akademische Leiter, der eine führende Position übernehmen sollte, wurde
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