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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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Lang lang ist es her, daß ich einen Roman des englischen Schriftstellers A. J. – »Archibald Joseph«, wenn ich mich nicht irre – Cronin gelesen habe, in einer deutschen Übersetzung, mit dem Titel »Die Sterne blicken herab«. Es war ein ziemlich dickes Buch, aber es liegt nicht an dem Autor und seiner Geschichte, die mich damals mitgenommen und begeistert hat, daß ich mich an kaum welche Einzelheiten erinnern kann. Was mir von dem Roman geblieben ist, neben den Sternen, die fortwährend herabblicken: Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (»wenn ich mich nicht irre«). Viel später, angesichts des Films »Wie grün war mein Tal«, von John Ford, gaukelten, im guten Sinn, die Bilder der Gesichter und Landschaften mir vor,daß es sich da, obwohl ich’s besser wußte, nicht etwa um eine Verfilmung von Richard Llewellyns »How Green Was My Valley«, vielmehr von Cronins »The Stars Look Down« handelte. Dabei habe ich doch von dem Epos der herabblickenden Sterne eine einzige Einzelheit behalten. Aber diese geht mir bis zum heutigen Tag nach, und sie ist es auch, welche den Ausgangspunkt für mein nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Orts und der stillen Orte bildet, und mit der jetzt hier dementsprechend der Anfang des Versuchs darüber gemacht werden soll.
    Jene Einzelheit erzählt, ob in meinem Gedächtnis oder in meiner Einbildung, folgendes: Einer der Helden von »Die Sterne blicken herab« – mir scheint, es sind zwei, und beide Kinder und dann Heranwachsende, aus reichem Haus der eine, aus armem der andere – hat es sich zur Gewohnheit gemacht, ohne Not die Toilette, den Abtritt,den Abort aufzusuchen. Und dazu kommt es jeweils, sowie ihm die Gesellschaft der anderen, der Erwachsenen, der Familie, über wird – zuviel wird – zur Last und zur Pein wird. Er schließt sich ein in das Klosett (»wie der Name schon sagt«), um nichts mehr zu hören von dem Gerede, und bleibt dort lang über die Zeit.
    Die Geschichte, oder ist es jetzt die Nacherzählung?, will, daß es der Abkömmling der Reichen ist, welchen es zu dem Stillen Ort treibt, und daß dieser Ort weit weg liegt von all den Salons und Gemächern des Herrenhauses, und daß der Junge nichts tut, als der Stille dort zu lauschen. Und ziemlich sicher ist, daß weniger die Geschichte, der Roman, als dessen Nacherzählung nun will, daß der jugendliche Held in der Abgeschlossenheit und Nächstenferne eine Vorstellung wie auch ein Gefühl hat, welcher und welchem das Buch seinen Namen verdankt: Da dort blicken ihm die Sterne herab. SeinStiller Ort war ohne Dach, offen zum Himmel.
    Auch für mich hier hat der Stille Ort eine Geschichte, eine in manchem verschiedene, aber mit der gerade nacherzählten vergleichbare; eine, in Anbetracht des nicht einmal »monotonen« Ortes, lebendig vielfältige. Diese Geschichte möchte ich versuchen, jetzt, nicht eigens ausgeführt, nachzuziehen, parallel und kontrapunktiert mit ansatzweisen Geschichten und Bildern, welche der und jener mir hat zukommen lassen.
    Es war an der Schwelle zwischen der Kindheit und dem Heranwachsendenalter, daß der Stille Ort mir etwas zu bedeuten begann über das Übliche oder Gewohnte hinaus. Wenn ich mir heute, hier am Schreibtisch weit weg von den Kindheitsgegenden wie der Kindheit, die Klosetts nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostberlin, Niederschönhausen, dann Pankow, und später den Abort des bäuerlichen Großvaterhauses im südlichen Kärnten vergegenwärtigen möchte, kommen mir nur spärliche Bilder in den Sinn – von der Großstadt nicht ein einziges –, und außerdem, und vor allem, gibt es mich nicht in ihnen, nicht als Kind und nicht als ein Wesen; fehlt in ihnen ein Ich oder Ich selber; sind diese Bilder wesenlos.
    Nichts als das Übliche: die handlich zu mehr oder weniger dicken Packen zurechtgeschnittenen Zeitungen, gelocht und an einer Schnur von einem Nagel in der Holzbretterwand hängend, mit der Variante, daß die Sprache der Schnipsel überwiegend das Slowenische war, des vom Großvater abonnierten Wochenblatts »Vestnik« (»Der Bote«). Der senkrechte Schacht vom Sitzloch hinab Richtung Misthaufen, der zu dem Viehstall unten gehörte – oder führte er nicht doch weiter zu einer Art Sickergrube? –, mit der Nuance, daß jener Schacht ungewöhnlich lang war, oder mir Kind jedenfalls so erschien, indem der Abort sich im ersten Stock des in einen
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