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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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habe. Ich weiß nicht, warum mir das weit häufigere Aufsuchen des Beichtstuhls im Laufe der heiligen Messejetzt als, zu einem gewissen Grade freilich bloß, etwas Vergleichbares vor die Augen kommt. Vergleichbar wie? Indem es mich, ohne daß ich dem unsichtbaren »Beichtvater« irgendwelche Sünden, und schon gar keine speziellen, zu beichten hatte – statt dessen frei nach dem Gewissenserforschungskatalog aus dem Katechismus ein paar Formeln heruntergeleiert –, indem es mich wegzog von den anderen, den Mitzöglingen in den Kirchenbänken, überhaupt der ganzen Gesellschaft, der ganzen Veranstaltung an einen Ort im Abseits, und der Beichtstuhl, das Beichthäuschen befand sich ja in der Tat abseits, gemäß der Erinnerung weit hinten im Kirchenschiff, und es war schon gut, sich dorthin auf den Weg gemacht zu haben. Freien Herzens, zumindest freieren, fast beschwingt dann in der Regel der Rückweg zu den Genossen, in die Zeremonie, jedoch nicht etwa, weil man im Dunkel des Beichtstuhls vor dem Ohrumriß des sonst unsichtbaren Beichtigers seinGewissen erleichtert hätte – was hieß eigentlich damals »Gewissen«?
    Unvergleichbar sind diese beiden Orte, der Stille und die Sündenkabine, und darüber hinaus grundverschieden, im Hinblick auf das, was mir, so vage wie dringlich, als die Hauptsache oder der Hauptstrang für den Versuch hier vorschwebt (ja, schwebt, und weiter in der Schwebe bleiben möge), und dem auch mein Hauptaugenmerk gelten soll: Das Aufstehen in den Bankreihen, mitten unter meinesgleichen, mitten in der Meßfeier, und das Weggehen, als einzelner, hinten zum Beichthäuschen, beides das kam nie aus einem Drang, geschweige denn aus einer Not. Es geschah jedesmal rein aus Langeweile. Freilich: Auch die Langeweile kann zu einer Art Not werden, oder auswachsen, und zu was für einer. Doch solcherart Langeweile, Langeweile als Leiden, als die andere, die umgekehrte Zeitnot, habe ich damals als Heranwachsender nochnicht gekannt, oder bilde es mir jetzt so ein, oder, konzentriert auf den Versuch über den Stillen Ort hier, tue als ob.
    Obwohl ich zeitweise begeistert lernte (»lernbegeistert«, das Wort gilt noch immer), kamen nicht selten Perioden, da ich wünschte, im Internatskrankenzimmer zu liegen, fern von Studiersaal und Lernpult, nicht ernstlich krank, aber doch womöglich mit ordentlich hohem Fieber, und vor allem nach dessen Schwinden noch ein paar Tage rekonvaleszent dort bleiben zu dürfen, über nichts nachdenkend und rätselnd als von morgens bis abends über die geometrischen oder sonstwelchen Figuren im andersweißen und -weichen Krankenzimmerleintuch. Solche Wünsche wurden während jener Jahre kaum je wahr. Wenn einmal, ohnedies selten, Fieber, dann nie so recht hoch, und am Thermometer zu reiben, wie das andere anrieten, hätte bei mir nichts gefruchtet: Seit je war ich fähig zu einem guten Schwindel nur im Spiel; wenn nichts auf dem Spiel stand. Sobald es um etwas ging, um einen Gewinn, um einen Betrug, war ich ertappt worden, oft sogar als Unschuldiger – der Schwindler war in Wahrheit mein Vorder-, mein Neben-, mein Hintermann.
    Einmal aber hatte ich Glück und durfte, fragt mich nicht warum, einige Tage im Krankenzimmer liegen, als einziger kranker Zögling dort, schwesterlich umsorgt von einer heiligen Nonne, von früh bis spät der Blick vom Bett aus durchs hohe große Fenster in eine grundandere Richtung und Gegend als vom Klassenzimmer mit den Luken und vom Studiersaal mit der weit weg von jedem Fenster gerückten Pultstaffel: eine Gegend, die samt Wäldern und Wiesen mit weidenden Kühen eine altvertraute und zugleich neue war, keine Internats- oder sonstwelche Grenze zwischen ihr und dem Krankenzimmer, dem eher kleinen, welch ein Gegensatz auch zu all den Sälen imeinstigen Schloß, Studiersälen, Speisesälen, Schlafsälen.
    Immerzu in diesem Zimmerchen bleiben. Aber eines Morgens, wie auch anders: Aufstehen, anziehen, zurück ins Leben und in die Gemeinschaft der Gesunden. Hinaus aus der Langeweile der weißen Leintücher, der wiederkäuenden oder schlafenden Rindviecher vor dem Fenster, der regelmäßigen Fichtenwipfel, einer wie der andere, als immergleichen Horizont. (Dabei habe ich mich während jener Tage im Krankenzimmer, ebenso wie viel später in wieder einem, mit irgendwelchen Elektronikdingern auf der Brust und dem Fensterblick auf einen dichtbesiedelten Friedhof, keinmal gelangweilt, und wenn etwa doch, so sagt das Gedächtnis, welches hier das Wort hat: Nein.)
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