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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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waren, an den Kabinenwänden.
    In meiner Lage als Illegaler hörte ich, so anders als bisher, die Geräusche der Außenwelt, wie sie bei mir in meinem Stillen Ort ankamen, statt entrückt oder gar gegenstandslos, vielmehr haut- oder trommelfellnah. Zum einen war solch ein Hören vielleicht ganz normal, da jene Nachtstunden vor allem die der Güterzüge waren, welche jeweils ohne Halt als eiserne Wilde Jagd über die Gleisfelder schossen. Zum andern schlug dem unrechtmäßig da Liegenden auch das ferne Rufen der Eulen in den Flußauen in den zunehmend langen Perioden der Lautlosigkeit als ein »Da ist er – da liegt er – fangt ihn – faßt ihn – haltet ihn!«-Schrei an das Ohr. Sogar das sommerliche Grillenzirpkonzert in den Eisenbahnergärten (so kalt konnte die Nacht also gar nicht gewesen sein) scheuchte ihn aus dem Beinah-Schlaf, indem es plötzlich im Gehörgang losschrillte oder trillerte; und ebenfalls die allerleiseste Böe von einem der Bahnhofsbäume. Von einem Stillen Ort konnte während jener immer wieder doch vollkommen stillen Nachtstunden keine Rede sein.
    Trotzdem zog es mich an keinen andern Ort. Mit der Zeit wünschte ich mich auch nicht mehr weg in ein Bett. Ich wollte um jeden Preis die Nacht lang, bis zum ersten Tageslicht – das freilich zu Julibeginn sehr früh spürbar wurde –, im Halb- oder Fastkreis um die Emailmuschel der Bahnhofstoilette liegenbleiben, wobei mir jetzt einfällt, daß der landweit bekannten Sage nach, wenn die Wilde Jagd nachts auf Töten aus durch die Lüfte braust, die Bedrohten unten auf der Erde Schutz fänden, indem sie sich hinlegten und einer mit dem andern ein Wagenrad bildete. Was aber, wenn man allein war? Ich bildete allein ein Rad, fast, aber schon das gab dann allmählich, eine wenngleich eher schwache, Zuflucht.
    Um nichts in der Welt hätte ich auch tauschen mögen mit der Gruppe der anderen, wie sie, während ich hier gekrümmt auf dem harten Steinboden lag, zugleich irgendwo unter dem südlichen Himmel in ihren Schlafsäcken steckten, die eine und der andere sich im Schlafen oder Wachliegen an den Händen oder sonstwo haltend. Natürlich hätten vielleicht auch sie etwas zu erzählen, aber das wäre nicht zu vergleichen mit dem, was ich hier zu erzählen hatte, nicht am nächsten Tag, nicht im nächsten Jahr – dazu war das Begebnis für sich und fürs erste zu kümmerlich –, und niemand Bestimmtem oder Nahstehendem: So einer hätte mich angesehen, sich meine Person oder Gestalt um die Klosettmuschel gewickelt vorgestellt und den Kopf geschüttelt.
    Jahre später erst kam der Moment, da ich, nicht mündlich, vielmehr im Aufschreiben, jene Nacht teilweise weitererzählen konnte, verwandelt, eine Verwandlung, die nicht gedacht war, sondern wie von selber geschah, eben im Aufschreiben.
    In meiner ersten längeren Erzählung, gegen Ende der Studienjahre, als ich schon gar kein rechter Student mehr war, liegt in der Vorstellung des Blinden, welcher die Geschichte erzählt, sein bis ans Ende vergebens erwarteter Bruder auf dem Heimweg aus dem Krieg zum Erzählerhaus nächtens, wenn ich recht erinnere, samt seinem Seesack in ebensolch einer Bahnhofstoilette, vor Augen nichts als das Spiegelweiß des Klosettsockels.
    Und zwanzig Jahre später verbringt Filip Kobal, der oder das Ich der Geschichte »Die Wiederholung«, aufgebrochen am Ende der Schulzeit allein, während alle anderen Mitschüler unterwegs nach Delphi und Epidauros sind, ebenso die erste Nacht mit seinem Seesack auf dem Boden. Nur ist dieser Boden nicht mehr der einer öffentlichen Toilette, es handelt sich um eine Nische in dem werweißwieviele Meilen langen Eisenbahntunnel von Rosenbach, Kärnten,nach Jesenice, Jugoslawien, und es soll eine abenteuerliche Nacht sein, im stockfinsteren Tunnel, mit von Zeit zu Zeit in Spannweite an dem in seine Nische gekrümmten »Ich« vorbeistampedierenden Güterwaggons. Tags darauf macht der Filip Kobal sich auf die epische, jahreszeitlange Wanderung durch das Land Slowenien, damals noch Teil von Jugoslawien, auf der Suche, wieder vergeblich, nach seinem im Krieg verschollenen Bruder, wobei ihm über die Verschiedenheiten der Landschaften und der Sprache ganz andere Augen aufgehen – während »ich« seinerzeit nach der Nacht in der Bahnhofstoilette von Spittal an der Drau gerade noch ein bißchen durch die Umgebung geirrt bin und dann: nichts wie heim, zurück ins Dorf. Slowenien, Jugoslawien, samt Jesenice, habe ich erst viel später betreten,
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