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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
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»S. am M.see«.
    Die Nacht verbracht – »Übernachtung« wäre nicht das Wort – habe ich in der Toilette des Zugbahnhofs alldort. Das Geldwar mir ausgegangen, oder reichte jedenfalls nicht mehr für eine Herberge, auch nicht für eine Jugendherberge, welche es in der Stadt Spittal damals, auch heute?, gar nicht gab. Dafür wurden die Bahnhöfe ab einer bestimmten Nachtstunde nicht geschlossen, und so konnte ich mich bis Mitternacht, und vielleicht länger, in dem Gebäude, samt Areal, herumtreiben.
    Es war eine Zeitlang noch fast warm, es war ja Sommer. Nur daß, damals zumindest, die Sommernächte in der Regel bald abkühlten; eine durchweg laue Nacht: im Gedächtnis eine große Seltenheit, etwas ganz Besonderes – man wollte dann um keinen Preis hinein ins Haus, vielmehr weiter draußen sitzen bleiben, zusammen, ja, mit den anderen, still, auch die vereinzelten Worte hier und Naturlaute dort Teil der Stille, und auch wenn kein Geißblattduft durch so eine Sommernacht strich, nichts als der leichte Nachtwind, so galt der doch gleich vielwie das Südstaaten-und-Mississippi-Geißblatt in den Büchern William Faulkners.
    Am und im Bahnhof von Spittal a. d. Drau wurde das nicht so eine Sommernacht. Lang vor Mitternacht zog es im Freien an, und die Kälte breitete sich bald auch im Innern des wie nach sämtlichen Seiten offenen Gebäudes aus. Zuerst bin ich noch den weiteren Umkreis draußen abgegangen, an den Eisenbahnergärten entlang und hinab in die Flußauen, wo das Bahnhofslicht nicht mehr durchdrang, später den engeren Kreis, einen immer engeren.
    Episodisch war es noch ein Zeitvertreib, der mir sozusagen einheizte und von der Müdigkeit ablenkte, auf den verschiedenen Bahnsteigen den Zügen zuzuschauen, vor allem den Fernzügen, nach Athen, Belgrad, Sofia, Bukarest, nach München, Köln, Kopenhagen, Ostende – die hielten im übrigen alle. Es fuhren dann aber immer weniger,und ab einem bestimmten Moment nahm die Müdigkeit überhand. Sie wurde so bedrängend, daß ich nicht mehr aus noch ein wußte. Oder dann doch: Ich schloß mich ein in eine der Kabinen der Bahnhofstoilette, welche sich, wenn auch abseits, irgendwo im Inneren der Anlage befand.
    Die Tür war zu öffnen mit einer Schilling-Münze, und als ich sie absperrte, spürte ich erst einmal eine gewisse Geborgenheit oder Aufgehobenheit. Ich habe mich umstandslos auf den gekachelten Boden gelegt, den Seesack als Nackenpolster. Die Kabine war freilich so klein, daß an ein Ausstrecken nicht zu denken war, und deshalb habe ich mich, den Kopf an der Hinterwand, in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt. Das Licht in der eher weitläufigen Bedürfnisanstalt, ziemlich hell, weiß, blieb die ganze Nacht an und kam nur leicht gedämpft in die nach oben und, für etwa eine Kinderfußbreit, auch nach unten offeneKabine. Zugedeckt mit ein paar Anziehsachen aus dem Seesack, versuchte ich zu lesen, Thomas Manns »Buddenbrooks«, die mich am Vortag in Radenthein, nach langem eher Befremdetwerden, unversehens mit sich genommen und beschwingt hatten, als es gegen Ende ans Sterben ging und der Todgeweihte darüber geradezu luftig ins Sinnen geriet.
    Aber an ein Weiterlesen, gekrümmt im Halbkreis um die weiße Abortkachel, war nicht zu denken. Auch kam die Müdigkeit, nach der ersten Aufregung, sich an solch einem Schlafplatz zu befinden, umso wuchtiger zurück. (Noch jetzt, heute, im Aufschreiben, macht sie mir Kopf und Augen schwer, und ich muß mit dem Drang kämpfen, mich auf der Stelle schlafen zu legen, so wie damals, als meine einzige Vorstellung die eines Bettes war.)
    Die Augen sind mir dort zugefallen. Nur kam ein Schlafen in dem WC nicht in Frage. Obwohl ich die Eintrittsgebühr entrichtet hatte, empfand ich mich, mit der Dauer der Nacht immer stärker, als jemand Illegalen. Ich hatte kein Recht, auf dem Boden der Bahnhofstoilette zu liegen, geschweige denn, da zu schlafen. Und trotzdem sperrte ich nicht auf und trat hinaus ins Freie. Es gab keinen anderen Ort für mich, nachtlang, als den da. Das war jetzt mein Ort, samt dem Schemen meines Gesichts in der Muschelkachel, welcher ich bis nach dem ersten Morgengrauen zugewendet lag, samt dem Schmieröl, oder was es war, rund um die Schrauben, mit denen der Kachelsockel im Boden befestigt war, samt den Härchen, oder dem Flaum, oder dem Mulch, oder was es war, rund um die Ringe des Schmieröls, samt den schlafenden Fliegen – »ah, Schlaf!« – oder Spinnen, oder Weberknechten, oder was sie
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