Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT)
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Eintritts (oder wie ich das nennen soll). Es war das ein Tag Anfang September in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, es regnete stark, und es wurde früh dunkel; damals war in unseren Breiten noch keine Sommerzeit eingeführt. Vor dem ersten gemeinsamen Nachtmahl der vielleicht dreihundert Zöglinge mußten wir in dem riesigen Speisesaal – noch nie hatte ich in einem Saal gegessen, war überhaupt noch keinmal in so etwas wie einem Saal gewesen, es sei denn, im Turnsaal – allesamt aufstehen und den von dem geistlichen Präfekten vorgebeteten Segen nachsprechen.
    Sehr lange war dieses Gebet, oder es kam mir bloß so vor, wohl auch deshalb, weil ich schon all die Zeit, seit der Ankunft im Internat am frühen Nachmittag, darauf aus gewesen war, meine Notdurft zu verrichten, in dem weitläufigen und verschachtelten Gebäude, einem ehemaligen Schloß, aberdie Toilette(n) nicht fand, auch gar nicht suchte. Und fragen? Wie ging das dort? So standen wir Neulinge, Wildwüchslinge aus den entferntesten Landwinkeln, und standen, und beteten nach, und beteten nach, und der kalte Abendregen klatschte jenseits der verschlossenen Refektoriumstüren heftiger und heftiger auf die Kieswege draußen im Schloßhof, wo, oder täusche ich mich?, dazu noch der Schloßspringbrunnen dazwischenplätschert, und wenn wir uns niederlassen könnten, auf die Bänke an den langlangen Eßtischen. Doch nein: Stehengeblieben und weitergebetet, und als wir uns endlich setzten, flutete etwas, wie ich meinte, Unübersehbares, von all den Heranwachsenden am Tisch Beäugtes über den schönen alten von vielen Lustern bestrahlten Schloßsteinboden, mäanderte vor aller Augen von Bankbein zu Bankbein, und weiter von Tischbein zu Tischbein, klammnaß wie an den Beinen, vom »Schritt« an, die neue Hose für den neuen Lebensabschnitt,ebenso wie unten an den Füßen die, mehr oder weniger, nagelneuen Schuhe.
    So bin ich sitzen geblieben bis ans Ende des Nachtmahls, starr, essend als ob, tuend als ob. Danach freilich, kaum zur Tür hinaus, bin ich auf der Stelle aus dem Massengedränge ausgeschert, weg, weit weg in den finstersten Winkel des Arkadenhofs. In der Erinnerung stehe ich, endlich!, im Lichtlosen, an einen Pfeiler gelehnt, und weiß in solcher Fremde – ich, der ich von klein auf diese wie jene Fremde gewohnt war – im Wortsinn weder aus noch ein. Weder hinaus ins Freie war denkbar, und nicht bloß wegen der versperrten Tore und des herabstürzenden Regens, noch zurück zu den andern, meinen Altersgenossen, in die Studier-, dann Schlafsäle: für immer hatte ich mich bei denen dort unmöglich gemacht.
    Ein Rauschen, ein spürbar anderes als das vom Regen, ist dann vernehmbar gewordenim Rücken des neuen Zöglings. Es tönte offenbar hinter einer Tür, und diese zeigte sich offen, die Tür zu der entlegensten und verstecktesten Toilette im Internat, vielleicht bestimmt für Besucher, oder die Gärtner, oder die auswärtigen Arbeiter, sonst immer abgesperrt, und an diesem Abend zufällig zugänglich. Ich habe kein Licht angeschaltet beim Eintritt, habe keinen Schalter gesucht, bin nur im Stockfinstern gestanden, umgeben von dem Rauschen, einerseits von den Pissoirs, andrerseits aus ein, zwei der Kabinen, wo die Spülung undicht war. Lange habe ich mich nicht von der Stelle gerührt. Meine Notdurft war ja, wohl oder übel, schon woanders verrichtet. Aber das dort war jetzt der Ort für eine ganz verschiedene Not, und da zu bleiben hat die, mit der Zeit, im Verlauf einer Stunde oder so, gestillt, zumindest fürs erste – für den Anfang im Internat. Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort. Und erstmals brachte der michzum Hören, einem für solch einen Ort, auch für später, typischen und mich bestimmenden. Was so sich hören ließ, war nicht allein das vielerlei Rauschen, innerhalb und außerhalb der gleichbleibend kalten Mauern, vielmehr das dadurch und ebenso durch das Fernsein gedämpfte Lärmen oder was auch der Mitzöglinge oben in den Etagen, welches derart nicht mehr als Lärm ankam, nicht mehr als Gegell und Gebrüll, sondern, für Momente, fast als etwas Heimeliges, fast. Das Rauschen an jenem lichtlosen Stillen Ort als der Grundton. Aber der Ton, welcher zählte, war, weitab im Hintergrund, der andere.
    Das Klosett, und nicht nur dies eine in dem Gelände, bedeutete für mich während der Jahre im geistlichen Internat einen möglichen Asylort, wenn ich mich zu dem auch mehr geflüchtet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher