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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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D AS V ERBRECHEN EINES I NNSBRUCKER K AUFMANNSSOHNS
    Schon nach kurzer Bekanntschaft seiner Person hatte ich höchst aufschlußreiche Einblicke in seine Entwicklung, in seine Kindheit vor allem: Geräusche, Gerüche in seinem ihm nun schon jahrelang fernen Elternhaus beschrieb er mir immer wieder, die Unheimlichkeit eines düsteren Kaufmannshauses; die Mutter und die Gemischtwarenstille und die im Finstern der hohen Gewölbe gefangenen Vögel; das Auftreten seines Vaters, der in dem Kaufmannshaus in der Anichstraße dauernd die Befehle eines rücksichtslosen Realitäten- und Menschenbeherrschers gab. Georg sprach immer von Lügen und Verleumdungen seiner Schwestern, mit was für teuflischen Schlichen oft Geschwister gegen Geschwister vorgehen können; eine verbrecherische Vernichtungssucht haben Schwestern gegen Brüder, Brüder gegen Schwestern, Brüder gegen Brüder, Schwestern gegen Schwestern. Sein Elternhaus war niemals ein Haus der Kinder gewesen, wie es die meisten anderen Häuser, Elternhäuser, vornehmlich in den besseren Gegenden, besseren Luftverhältnissen sind, sondern ein furchtbares, noch dazu feuchtes und riesiges Erwachsenenhaus, in welchem niemals Kinder, sondern immer gleich grauenhafte Rechner auf die Welt gekommen sind, Großmaulsäuglinge mit dem Riecher für das Geschäft und für Unterdrückung der Nächstenliebe.
    Georg war eine Ausnahme. Er war der Mittelpunkt, aber seiner Unbrauchbarkeit, der Schande wegen, die er für die ganze dauernd an ihm erschrockene und verbitterte Familie immer und immer dort, wo sie es zu verwischen trachtete, darstellte, ein entsetzlich verkrümmter und verkrüppelter Mittelpunkt, den sie unter allen Umständen aus dem Haus haben wollte. Er war so und auf die infamste Weise von der Natur verunstaltet, daß sie ihn immer verstecken mußten. Nachdem sie von der ärztlichen Kunst und vonder medizinischen Wissenschaft überhaupt bis in die Tiefe ihrer fäkalischen und viktualischen Verabscheuungswürdigkeit hinein enttäuscht worden waren, erflehten sie sich in perfider Gemeinsamkeit eine Todeserkrankung für Georg, welche ihn möglichst schnell aus der Welt schaffen sollte; sie waren zu allem bereit gewesen, wenn er nur stürbe; aber er starb nicht, und er ist, obwohl sie alle zusammen alles getan haben, um ihn tödlich erkranken zu lassen, nicht ein einziges Mal (weder in Innsbruck, wo er ein paar hundert Meter neben mir, durch den Innfluß von mir getrennt – keiner hatte vom anderen gewußt –, aufgewachsen war, noch später, während unserer Wiener Studien in unserem im dritten Stock eines Zirkusgassenhauses gelegenen Zimmer) tod krank geworden; er war unter ihnen nur immer größer und größer und immer häßlicher und hinfälliger, immer unbrauchbarer und hilfsbedürftiger geworden, aber ohne die Mitleidenschaft seiner Organe, die besser funktionierten als ihre eigenen ... Diese Entwicklung Georgs verbitterte sie, vor allem, weil sie schon in dem Augenblick, in dem er von seiner brüllenden Mutter auf einen Eckstein des Waschküchenbodens geworfen worden war, den Entschluß gefaßt hatten, sich für die entsetzliche Überraschung der Geburt eines zuerst riesigen, feuchten und fetten, dann aber, wenn auch immer größeren, so doch immer zarteren und gesünderen unansehnlichen »Krüppelsohnes« (so rief ihn sein Vater) auf ihre Weise zu rächen, sich zu entschädigen für ein zum Himmel schreiendes Unrecht; einer Verschwörung gleich, hatten sie beschlossen, sich seiner, Georgs, noch bevor er, wie sie grübelten, ihnen einen möglicherweise tödlichen Schaden durch seine bloße Existenz zufügen konnte, und ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, zu entledigen; jahrelang glaubten sie, der Zeitpunkt, da sie ihn ausgestanden haben werden, sei nah, sie hatten sich aber getäuscht, durch sich selbst täuschen lassen, seine Gesundheit, seine Krankheitslosigkeit, was Georgs Lungen, sein Herz, alleanderen wichtigen Organe betrifft, waren stärker als ihr Wille und ihre Klugheit.
    Zum einen Teil entsetzt, zum andern größenwahnsinnig, konstatierten sie mit seinem rapiden Größer- und Gesünder und Zarter- und Intelligenter- und Häßlicherwerden, daß er, das glaubten sie in der Wirklichkeit, nicht aus ihrer jahrhundertealten Kaufmannssubstanz hinausgekommen und unter ihnen hocken geblieben war; sie hätten wohl nach mehreren Totgeburten einen der Ihren verdient gehabt, einen geraden, keinen krummen Balken von Kaufmannsgeblüt, der sie alle zusammen vom ersten
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