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So fern wie ein Traum

So fern wie ein Traum

Titel: So fern wie ein Traum
Autoren: Nora Roberts
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Prolog
    Kalifornien, 1888
    Es war ein langer Weg für einen Reisenden. Nicht nur der vielen Meilen wegen, die es von San Diego bis zu den Klippen nahe Monterey zurückzulegen galt, dachte Felipe, sondern auch der Jahre wegen. Der vielen Jahre wegen, seitdem er fortgegangen war.
    Einmal war er jung genug gewesen, um voller Selbstvertrauen über die Felsen zu steigen, zu klettern, ja sogar zu rennen, erinnerte er sich. Er hatte der Natur getrotzt, hatte das Heulen des Windes, das Donnern der Wogen, die schwindelerregende Höhe gefeiert wie ein Fest. Einmal waren die Felsen für ihn im Frühjahr in ihrer ganzen Pracht erblüht. Seraphina hatte Blumen gepflückt und, so erinnerte er sich mit dem klaren Blick des Alters für die Jugend, wie hatte sie gelacht und die zähen kleinen Wildblumen an ihre Brust gedrückt, als wären sie kostbare Rosen von einem sorgsam gepflegten Strauch.
    Seine Sehstärke und seine Gliedmaßen ließen ihn allmählich im Stich. Nicht aber seine Erinnerung. Eine kraftvolle, lebendige Erinnerung in einem alten Körper sollte seine Strafe sein. Welche Freuden ihm auch immer in seinem Leben zuteil geworden waren, immer hatten der Klang von Seraphinas Lachen, das Vertrauen in ihren dunklen Augen, ihre junge, abgrundtiefe Liebe sie getrübt.
    In den über vierzig Jahren seit er sie – und den Teil seiner Selbst, der unschuldig gewesen war – verloren hatte, hatte er sich mit seinen Fehlern arrangiert. Er war ein Feigling gewesen, war vor der Schlacht davongelaufen, statt das Grauen des Krieges tapfer durchzustehen, hatte sich lieber zwischen den Toten verborgen, als selbst mit einem Bajonett in der Hand gegen den Feind zu ziehen.
    Aber damals war er jung gewesen, und jungen Menschen musste man solches Tun verzeihen.
    Er hatte zugelassen, dass seine Freunde und Verwandten dachten, er wäre tot, gefallen wie ein Krieger – wie ein Held. Aus Scham und auch aus Stolz. Belanglosigkeiten, Scham und Stolz. Das Leben bestand aus vielen Belanglosigkeiten, dachte er. Aber diese Scham und dieser Stolz waren schuld an Seraphinas Tod.
    Müde setzte er sich auf einen Felsen und lauschte dem Tosen des Wassers, das gegen die Klippen schlug, lauschte den schrillen Schreien der Möwen über seinem Kopf, dem Rauschen des Wintergrases zu seinen Füßen. Die Luft war schneidend kalt, als er seine Augen schloss und sein Herz der Liebsten öffnete.
    Sie blieb immer jung, immer die liebreizende, dunkeläugige Gestalt, die sie damals gewesen war. Seraphina hatte nicht die Möglichkeit gehabt, alt zu werden, so wie er. Statt darauf zu warten, hatte sie sich aus Trauer und Verzweiflung in den Tod gestürzt. Aus Liebe zu dem jungen Mann, der er einmal gewesen war. Sie hatte nicht lange genug gelebt, um zu erkennen, dass im Leben nichts ewig dauerte.
    In dem Glauben, der Geliebte wäre tot, hatte sie sich und ihre Zukunft fortgeworfen.
    Er hatte um sie getrauert. Hatte, Gott wusste es, um sie getrauert wie um niemand anderen. Aber er hatte ihr nicht folgen können, sondern stattdessen seinen Namen und sein Zuhause aufgegeben und war nach Süden gezogen – als ein anderer.
    Dann kam eine neue Liebe. Nicht die süße, zarte Liebe, die ihn mit Seraphina verbunden hatte, sondern etwas Solides, Starkes, erbaut auf den Säulen von Vertrauen und Verständnis, sowohl bescheidenen als auch leidenschaftlichen Bedürfnissen.
    Er hatte sein Möglichstes getan.
    Er hatte Kinder und Enkel, hatte ein Leben mit all der Freude und dem Leid eines wahren Mannes geführt, hatte eine Frau geliebt, eine Familie gegründet, Bäume gepflanzt. Hatte gelebt und war zufrieden gewesen mit dem, was das Leben ihm beschied.
    Doch nie hatte er das Mädchen vergessen, das von ihm geliebt – und in den Tod geschickt – worden war. Nie hatte er ihren Traum von der Zukunft vergessen oder die süße, unschuldige Art, in der sie sich ihm hingab. Sie hatten einander in aller Heimlichkeit geliebt, hatten von ihrem gemeinsamen Leben geträumt, von dem Heim, das sie dank ihrer Mitgift gründen, von den Kindern, die sie haben würden.
    Aber dann war der Krieg gekommen und er hatte sie verlassen, um zu beweisen, was für ein ganzer Mann er war. Stattdessen hatte er seine Feigheit unter Beweis gestellt. Sie hatte ihre Mitgift, das Symbol der Hoffnung, die ein junges Mädchen hegt, versteckt, damit sie nicht den Amerikanern in die Hände fiel.
    Felipe wusste ganz genau, wo dieser Schatz verborgen lag. Er hatte seine Seraphina, ihre Logik, ihre Gefühle, ihre Stärken,
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