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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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    Die Große Seele
     
     
     
    Der Situation haftete etwas Unwirkliches an. Kein Romancier, dem etwas an seiner Glaubwürdigkeit lag, hätte die Szene in dieser Weise zu Papier gebracht. Und trotzdem trug sich alles genau so zu.
    Der kleine braune Mann, der nur mit einem selbst gewebten Tuch bekleidet war und die Arme gerade zum traditionellen Segensgruß erhoben hatte, reagierte erstaunlich gefasst. Die Augen hinter den runden Brillengläsern Bapus, des »kleinen Vaters«, verrieten keine Furcht, ja nicht einmal Erstaunen. Da war nur Bedauern wie über eine verpasste Chance, vielleicht sogar Mitleid mit dem jungen Mann, der sich ihm in den Weg gestellt hatte.
    Aber auch dessen Verhalten entsprach nicht unbedingt den in der Literatur vorgegebenen Klischees. Anstatt Hass zeigte er Respekt. Er wünschte dem fast Achtzigjährigen alles Gute und verbeugte sich ehrfürchtig. An der ganzen Szene störte eigentlich nur der Revolver zwischen dem kleinen Mann und dem höflichen Attentäter.
    Das Haus in Faridabad bot einen erbärmlichen Anblick. Der Verputz war großflächig abgefallen. Braungelbe Lehmziegel stachen hervor, die sich ebenfalls in einem fortgeschrittenen Stadium der Auflösung befanden. Das Gebäude mit den leeren Fensterhöhlen und dem Flachdach schien verlassen zu sein. Vielleicht hatte Gandhi sich geirrt. Zwar wogen dessen Vertraute jedes seiner Worte mit Gold auf, aber unfehlbar war der Mahatma – »Er, dessen Seele groß ist« – auch nicht.
    Ja, bis zu diesem 30. Januar 1948 hatten die Menschen ihm viele Ehrennamen verliehen. Seine engsten Freunde, für die Mohandas Karamchand Gandhi einfach Bapu war, würden ihren »kleinen Vater« natürlich nie absichtlich täuschen, aber glühende Bewunderung und Scharfblick gleichen oft Feuer und Wasser: Das eine schließt das andere aus. Und wo es an Besonnenheit mangelt, kann man leicht etwas Wichtiges übersehen. Die einzige Konstante in diesen bewegten Zeiten schien ohnehin der stete Wechsel zu sein.
    Während David unter der brütenden Sonne zu dem schäbigen Haus hinüberspähte, wanderten seine Gedanken zurück. Bewegte Tage und Wochen lagen hinter ihm. Vor erst vierundzwanzig Monaten, im Januar 1946, hatte er Japan verlassen. Nach einer kurzen Stippvisite in New York war er im Auftrag seines Freundes Henry Luce als Prozessbeobachter nach Nürnberg gereist. Das internationale Militärtribunal hatte mit einstigen Nazigrößen abgerechnet. Auch mit Franz von Papen, ein für David allerdings noch nicht abgeschlossenes Kapitel. Dem war eine wochenlange Odyssee quer durch Europa gefolgt, die ihn schließlich hierher, nach Indien, geführt hatte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte er nur zwei Mitglieder aus dem Kreis der Dämmerung ausschalten können. Damit blieben, neben Lord Belial, noch neun! Und Davids einhundertjähriges Lebensmaß war beinahe zur Hälfte ausgeschöpft. Nein, er hatte dieser – zugegeben – vagen Hoffnung einfach nachgehen müssen. Gandhi kannte die Höhen und Tiefen des Daseins und die Abgründe der menschlichen Seele. Als Verfechter der Idee der Gewaltlosigkeit musste er Lord Belial und seinem Geheimbund ein Dorn im Auge sein. Vielleicht, so hatte David sich gedacht, konnte ihn der Mahatma in seinem Kampf gegen den Kreis der Dämmerung unterstützen. Im Augenblick kam ihm dieser Gedanke allerdings ungemein selbstsüchtig vor. Gandhi war nicht gerade darauf erpicht gewesen, sich noch weitere Sorgen aufzuladen. Er hatte in den vergangenen zwölf Monaten selbst einen zermürbenden Kampf geführt und war schließlich gescheitert. Moslems, Sikhs und Hindus wollten sich lieber gegenseitig zerfleischen, als seine Vision von einem geeinten Indien wahr werden zu lassen. Zweimal war er in Hungerstreik getreten und hatte damit die zerstrittenen Parteien wieder zum Frieden gezwungen. Wer wollte es dem Mahatma verübeln, wenn ihm der Wohnort eines kleinen Wadenbeißers wie Raja Mehta nicht gewärtig war?
    »Sieht ziemlich verlassen aus, oder was meinst du?« Die Frage galt Balu Dreibein an Davids Seite. Der kleine Inder trug Pumphosen und ein langes Hemd aus feinem weißem Leinen, eine graubraune Weste sowie einen hellgelben Turban. Unzufrieden stieß der alte Mann seinen Stock in den Boden und eine kleine Staubwolke stob auf. »Wenn wir nicht nachschauen, werden wir’s nie herausfinden, Sahib.«
    »Ich hätte eher erwartet, dass du mich warnst.« David ahmte die Redeweise des alten Freundes nach: »›Zu gefährlich, Sahib.‹ Früher hörte
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