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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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Straßen werden immer belebter, Sahib! Warum fährst du wie ein Wahnsinniger?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber dann geh doch vom Gas!«
    David schüttelte den Kopf. »Da ist so eine Unruhe in mir. Ich kann es selbst nicht recht beschreiben. Aber das Gefühl ist mir nicht unbekannt.«
    »Und was sagt dein Gefühl?«
    »Gefahr.« David wich einer Rikscha aus und drehte sich kurz zu Balu. »Lebensgefahr.«
    »Doch nicht…?«
    »Wenn ich das wüsste, mein Guter, wäre mir wohler. Bisher habe ich Ähnliches nur empfunden, wenn meine Angehörigen oder gute Freunde betroffen waren. Aber ich bin ja auch selten zuvor einem Menschen wie der Großen Seele begegnet.«
    Balu klammerte sich am Haltegriff des Armaturenbretts fest und fragte: »Geht denn das nicht schneller?«
     
     
    Birla House war im Vergleich zu dem früheren Domizil Gandhis in den Slums von Bombay geradezu idyllisch gelegen. Da gab es Bäume, Rosenbüsche und einen großen grünen Platz, auf dem sich die Menschen jeden Abend zur gleichen Uhrzeit versammelten, um mit dem »kleinen Vater« zu beten. So auch an diesem Tag.
    Ungefähr fünfzehn Minuten nach fünf hielt David am Rande des Areals und sprang aus dem Wagen. Auf dem Platz befand sich eine von einem weißen Baldachin beschattete Plattform aus Holz, von der aus der kleine braune Mann gewöhnlich zu seinen Anhängern sprach. Aber David sah keinen Bapu, nur eine wogende Masse. Sein Angstgefühl wurde immer stärker. Er lief zu der Plattform, rascher als Balu auf seinen drei Beinen, schneller auch als Abhitha, die noch zögerte, denselben Rasen zu betreten, über den der »kleine Vater Indiens« zu wandeln pflegte.
    Unsanft, wie es sonst gar nicht seine Art war, schob David die Menschen zur Seite. Vor sich glaubte er Abha zu entdecken. Gandhis Nichte bat gerade mit besänftigendem Lächeln aufgeregte Besucher zur Seite. Und da! Aus der Menge erhoben sich zwei dürre Arme. David hatte den Segensgruß der Großen Seele nun schon so oft gesehen. Gerade wollte er aufatmen, als durch seinen Geist plötzlich ein Schuss gellte, gefolgt von einem zweiten und dritten – die Vorahnung des Kommenden.
    Verzweiflung wollte Davids Herz zersprengen. Unter Aufbietung all seiner Kraft bahnte er sich den Weg. Die Plattform lag nun ganz dicht vor ihm. Der Schütze stand irgendwo in der Menge, war für ihn immer noch unsichtbar und damit unerreichbar. Da zerrissen drei Schüsse die fröhliche Atmosphäre und David brach zu dem Attentäter und seinem Opfer durch.
    »He Ram!«, murmelte Gandhi, »Oh Gott!«, und keine Silbe mehr. David war es, als schwebten die letzten Worte der Großen Seele wie der besänftigende Klang einer Glocke über dem Platz. Entsetzen versiegelte für einen Augenblick die Lippen der Gläubigen und schuf eine fast gespenstische Stille. Dann waren die zwei Worte verklungen wie der Nachhall des Schusses.
    Der kleine braune Mann lebte nicht mehr.
    Auf dem Platz vor Birla House brach Chaos aus. Als den Anhängern Gandhis klar wurde, was da eben geschehen war, erhoben sich die ersten Rufe nach Vergeltung. Vergessen das Credo der Gewaltlosigkeit, das ihr Führer immer gepredigt hatte. David hatte in den letzten beiden Wochen genug von der explosiven Stimmung in Indien mitbekommen, um sich die blutigen Folgen dieses Attentats ausmalen zu können. Sollte der Mörder ein Moslem sein, würden die Hindus wieder Dörfer überfallen und die Bäuche von Frauen und Kindern aufschlitzen, Totenzüge würden durch den Punjab rollen, voller Passagiere mit durchschnittenen Kehlen oder abgeschlagenen Köpfen. Alles würde sich wiederholen.
    »Der Attentäter ist ein Hindu«, raunte David in Manus Ohr, während er den leblosen Körper Gandhis untersuchte. Der Mahatma atmete nicht mehr. Drei Löcher klafften in seiner Brust. Wenigstens hast du nicht leiden müssen, klei ner Vater. Inzwischen war auch Balu Dreibein herangekommen und blickte erschüttert auf den blutverschmierten Schal seines Bapu. »Nun geht schon!«, verlangte David von den beiden. »Sagt den Leuten, der Mörder sei kein Moslem. Und schickt jemanden nach Pandit. Am besten auch gleich nach dem Generalgouverneur. Es wird ein großes Unglück geben, wenn wir nicht schnell handeln und die Lunte vom Pulverfass reißen.«
    »Das große Unglück ist bereits geschehen«, antwortete die Nichte des Toten, ging dann aber doch, um Davids Anweisungen nachzukommen. Balu folgte ihr, aber ehe er sich abwandte, glaubte David ihm durch die Augen direkt auf den Grund seiner
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