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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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blutunterlaufen – also kein Schädelbruch. David erlaubte sich ein erstes Aufatmen. Eine ansehnliche Beule sowie dröhnende Kopfschmerzen würden die Kleine noch eine Weile an diesen Tag erinnern, doch weitere Blessuren schien sie nicht davongetragen zu haben.
    Langsam ließ er den Kopf des Mädchens gegen seine Brust sinken und strich sanft die staubigen Haare aus dem jungen Gesicht. Wenn man sich die dicke Schmutzschicht darauf wegdachte, konnte sie höchstens achtzehn sein – wahrscheinlich sogar erst sechzehn.
    Plötzlich öffnete die Kleine die Augen.
    »Wie schön! Du bist wieder wach«, sagte David leise.
    Seine Stimme – vielleicht auch die Berührung seiner Finger – zeigte Wirkung. Das Mädchen runzelte die Stirn und musterte ihn prüfend. Aber sie spuckte nicht mehr.
    »Mein Name ist David Pratt«, sagte er freundlich und legte sich die flache Hand auf die Brust. Dann deutete er auf die Wiedererwachte. »Und wer bist du?«
    Das Mädchen bewegte die aufgesprungenen Lippen, aber es dauerte eine Weile, bis endlich ein einzelnes Wort hervorkam. »Abhitha.«
    David lächelte, doch bevor er noch etwas sagen konnte, verdunkelte ein Schatten die am Boden Kauernden.
    »Die Schlange ist wieder aus ihrem Korb gekrochen«, sagte eine abschätzig klingende Stimme. »Dann können wir sie ja jetzt ertränken.«
    Davids Blick glitt an den drei Beinen nach oben, bis die Sonne ihm die Sicht nahm und ihn blinzeln ließ. »Ich glaube, sie ist gar nicht so giftig, wie du glaubst, Balu. Bitte frage Abhitha, ob sie allein in dem Haus wohnt.«
    Der kleine Inder tat ihm den Gefallen, wenn auch auf eine etwas ruppige Art. Das Mädchen gab eine kurze Antwort in Hindi.
    »Sie sagt, sie wohne gar nicht hier.«
    »Und was hat sie dann in dem Haus zu suchen gehabt?«
    »›Ich bin ein Straßenkind‹«, übersetzte Balu die Antwort Abhithas.
    »Und was will sie damit sagen?«
    Balu zuckte die Schultern. »In Indien haben die Familien viele Köpfe. Der Schopf eines Jungen wird allerdings wesentlich lieber gesehen als der eines Mädchens. Ein neugeborenes Mädchen wird oft einfach ertränkt oder lebendig begraben – je nach Religion der Eltern. Manchmal verstümmelt man die überflüssigen Kinder auch und schickt sie zum Betteln auf die Straße. Die Kleine da scheint noch Glück gehabt zu haben. Ihr fehlt nur ein Dach über dem Kopf.«
    David nickte. »Und deshalb hat sie sich ein leer stehendes Haus gesucht. Frage sie bitte, ob es so gewesen ist.«
    Abhitha bestätigte die Vermutung. Auf Davids weitere Fragen hin erklärte sie, dass sie nicht wisse, wer vorher in dem halb verfallenen Gebäude gewohnt habe. Sie lebe erst seit einigen Wochen in dieser Gegend und während dieser Zeit habe sich außer ihr niemand in dem Haus aufgehalten.
    Die nächste Bemerkung des Mädchens ließ Balu erschrocken zurückfahren. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet. »Schnell, lass von ihr ab, Sahib!«, keuchte er.
    David wurde aus der seltsamen Reaktion seines Freundes nicht recht schlau. »Weshalb? Was hat sie denn gesagt?«
    Balu wich weiter zurück, die Hände wie zur Abwehr des Bösen erhoben. »Aussatz!«, hauchte er. »Man erzählt sich im Viertel, das Gesicht eines der früheren Hausbewohner habe sich in das einer Raubkatze verwandelt. Andere sagen, der Aussatz habe alle Menschen aus dem Gebäude vertrieben.«
     
     
    Faridabad lag ungefähr fünfzehn Meilen südöstlich von Neu-Delhi. Eine für indische Verhältnisse gut ausgebaute Straße ließ die schwere englische Limousine zügig vorankommen. Am Steuer saß David, daneben Batuswami Bhavabhuti, den Wurfstock zwischen den Beinen und seinem Fahrer alle drei Meilen wegen der dritten Person im Fond Vorhaltungen machend.
    Der Austin stammte übrigens aus dem Fuhrpark des britischen Generalgouverneurs. Diese nicht unbedingt alltägliche Leihgabe hatte David Lady Edwina Mountbatten zu verdanken, einer glühenden Verehrerin Gandhis. Lord Louis Mountbatten – der vormalige Vizekönig von Indien und seit der Unabhängigkeit des Landes im letzten August dessen Generalgouverneur – und seine Gemahlin pflegten gute Kontakte zu Mahatma Gandhi und hatten bei einem ihrer Besuche auch den freien Mitarbeiter des Time-Magazins David Pratt kennen und schätzen gelernt. Vor allem die beharrliche Fürsprache von Lady Edwina hatte David während seines Aufenthaltes in Delhi manche Annehmlichkeit verschafft.
    Dabei befand er sich erst seit wenigen Tagen in der nordindischen Stadt. Er erinnerte sich noch
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