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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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genau an jenen Abend des 17. Januar, kurz nach seiner Ankunft in Delhi, als er Gandhi zum ersten Mal begegnet war. Der zerbrechlich wirkende Mann hatte gerade wieder einmal ein mehrtägiges »Todesfasten« hinter sich. So nannte der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung seine persönlichen Protestaktionen gegen die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus, Moslems und Sikhs. Diese Rücksichtslosigkeit gegen den eigenen Körper war die einzige Form von »Gewaltanwendung«, die er tolerierte. Schon oft hatte er sein Leben riskiert und damit mehr erreicht als durch den Einsatz ganzer Armeen. Diese Art der Auseinandersetzung schien allerdings nur für ein Land wie Indien geeignet zu sein, in dem Politik und Religion so eng miteinander verwoben waren, dass selbst die unerbittlichsten Moslemführer einen von allen geliebten Hinduprediger nicht einfach sterben lassen konnten.
    Aber nach dem letzten Fasten war Gandhi nur noch ein Schatten seiner selbst. Auf sechsundneunzig Pfund abgemagert, konnte er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr aufrichten, als Balu ihm seinen »englischen Sahib« vorstellte. Drei Tage später versuchte ein fanatischer junger Hindu dem »kleinen Vater« die Idee auszureden, mit Moslems sei gut auszukommen. Für seine Überzeugungsarbeit bediente sich der Besucher einer Bombe. Glücklicherweise hatte David das Unglück vorausgesehen und damit ernsthaften Schaden vom Birla House und seinem verehrten Bewohner abgewendet.
    Seit diesem Tag durfte David fast täglich – meist in Gegenwart von Balu Dreibein – mit dem weisen alten Mann sprechen. Gandhi erholte sich nur langsam von Hungerstreik und Bombenschreck. Sogar jetzt, nach einer Woche, musste er seine Arme immer noch auf die Schultern seiner beiden Nichten Manu und Abha stützen, wollte er zum Abendgebet vor die alte Villa treten. Dort erwarteten ihn Hindus, Moslems, Sikhs, alle friedlich vereint. Er mochte seine Kinder nicht enttäuschen. Selbst einem Christen wie David begegnete er mit erfrischender Unbefangenheit.
    »Der Kreis der Dämmerung steht für alle Übel dieser Welt, Mr Gandhi. Es ist meine Bestimmung, ihn zu bekämpfen, und ehrlich gesagt, sind Sie mir von Balu als ein Mann beschrieben worden, der dafür das größte Verständnis haben müsste.« David hatte dem Mahatma reinen Wein eingeschenkt und wartete nun gespannt auf dessen Reaktion.
    »Balu.« Gandhi wiederholte diesen Namen wie den eines geliebten Enkelkindes, während er Batuswami Bhavabhuti einen unergründlichen Blick widmete. Dann wandte er sich wieder David zu und erwiderte mit seiner leisen Stimme: »Er ist ein alter Mann. Sie dürfen nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen.«
    »Aber immerhin drei Jahre jünger als Sie, Mr Gandhi, und ich meine beobachtet zu haben, dass jedes Ihrer Worte von Ihren Schülern mit Gold aufgewogen wird.«
    Der Kopf des kleinen braunen Mannes schnellte nach links und ein Anflug von Unwillen huschte über sein Gesicht. »Drei Jahre jünger? Das hast du mir nie verraten, Baluji.«
    Batuswami Bhavabhutis Augen funkelten erbost in Davids Richtung, bevor er dem Mahatma mit sanfter Stimme antwortete: »Du hast mich nie danach gefragt, Bapuji.«
    Gandhi schürzte die Lippen und sein grauer Schnurrbart sträubte sich wie bei einem Walross. Er lachte. »Da hast du Recht.« Sich wieder seinem englischen Besucher zuwendend, erklärte er dann würdevoll: »An Ihrer Ehrlichkeit habe ich seit unserem ersten Gespräch übrigens keinen Moment gezweifelt, Mr Pratt. Ich glaube zu wissen, wann jemand die Wahrheit spricht, und ich muss gestehen, noch nie war ich mehr von der Aufrichtigkeit eines Menschen überzeugt.«
    Mit einem Nicken bedankte sich der Wahrheitsfinder für das Kompliment, blieb in der Sache selbst jedoch hartnäckig. »Wenn Sie nicht an meinen Worten zweifeln, kann ich dann auf Ihre Unterstützung hoffen?«
    Der alte Mann lächelte schwach. »Lassen Sie es mich einmal so sagen, mein Freund. Nach einer Woche des Herumdrucksens haben Sie mir heute die Geschichte von diesem Lord Belial und seinen elf Logenbrüdern aufgetischt, der Verkörperung ›aller Übel dieser Welt‹, wie Sie es ausdrückten. Ihre christliche Erziehung zwingt Sie regelrecht zu dieser Einschätzung. Sie glauben ja auch an einen persönlichen Gott, der in sich alle guten Eigenschaften vereint. Dank meiner Mutter bin dagegen ich mit einem hinduistischen Weltbild aufgewachsen. Wir haben so ungefähr dreihundertdreißig Millionen Götter – sehen Sie es mir
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