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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
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der Boden der zweiten Flasche erreicht war, stellte Pfarrer Merckel einen Plattenspieler an. »Eine Polka!« schrie er. »Junge, Peter! Das war'n noch Zeiten, als man Polka tanzen konnte!« Und dann tanzte er, stampfend, sich drehend wie ein plumper Bär, warf die Arme empor, zerzauste sich die silbernen Haare, schlenkerte mit den Beinen und hüpfte quer durch das Zimmer. Peter Kaul schlug mit beiden Fäusten den Takt dazu auf die Tischplatte und grölte. Welch ein schöner Tag, dachte er. Wie herrlich! Fröhlichkeit! Leichtsinn! Hurra!
    Plötzlich, als habe ihn ein Axthieb gefällt, sank er nach vom und schlug mit der Stirn auf die Tischplatte. Er heulte wie ein junger Hund und umkrallte das Tischbein unter sich.
    »So ein Schwein!« wimmerte er. »So ein gemeines Schwein! Alles, alles hat er mir genommen …«
    Pfarrer Merckel stellte sofort den Plattenspieler ab und schwankte zu Peter Kaul. Er ließ sich in den Sessel fallen, strich sich die verwilderten silbernen Haare aus der Stirn und tupfte sich den Schweiß mit beiden Händen vom hochroten Gesicht.
    »Er ist wirklich ein Lump!« sagte er laut.
    Peter Kaul hob den Kopf und starrte den Pfarrer aus leeren Augen an.
    »Seit zwei Jahren geht es so … jeden Freitag muß ich von meinem Lohn zwanzig Prozent zahlen! Zwanzig Prozent! Und wenn ich's nicht tue, will er mich bei der Werksleitung anzeigen! Dann bin ich fertig, vollkommen fertig. Ich habe es doch verschwiegen … keiner weiß was davon. Nur er … nur er …«
    Pfarrer Merckel nickte. »Ein sauberer Bursche!« Er drückte Kaul in den Sessel zurück. Der Kopf fiel nach hinten auf die hohe Lehne, die Augen stierten gegen die dunkle, getäfelte Decke. »Warum hast du das denn nie gesagt?« fragte Merckel.
    Kaul schluckte. Seine Augen, rotgerändert und wäßrig, blickten jetzt wieder auf den Pfarrer. In der Leere des Blickes sammelte sich plötzlich Angst und Grauen.
    »Ich … ich habe einen Menschen getötet«, sagte er leise.
    Pfarrer Merckel hatte vieles erwartet, aber das nicht. Er gestand sich, daß er seine Beine weich werden fühlte, und ließ sich in den Sessel fallen. »Wieso?« fragte er. »Du hast einen Menschen umgebracht? Das sieht dir doch nicht ähnlich!«
    Peter Kaul schüttelte wild den Kopf. »Ich wollte es doch nicht! Glauben Sie mir, ich war nur leichtsinnig!« Er wischte sich über die Augen. Aus dem Nebel des Alkohols wallte die Szene herauf.
    Vor drei Jahren. Auf der Zeche ›Amalia‹. Unter Tage war ein neuer Stollen fertig geworden. Er war eingefahren, um die elektrischen Leitungen für die Kohlenhobel zu legen. Zehn Tage war er schon unter Tage, hatte die Gummikabel gezogen, hatte die Verteilerkästen gesetzt, hatte verdrahtet. Dann schloß er das Kabel an die Hauptleitung an, durch die Strippen floß ›Saft‹, wie man in der Fachsprache sagt, ja, und dann war Mittag. Er ging zum Essen und ließ zwei Kabelenden unisoliert. Nur eine halbe Stunde. Aber ein Schild hängte er an den Kasten. Achtung! Strom!
    Zehn Minuten später gab es den Kurzschluß. Die Sicherungen knallten heraus, und neben dem Kasten, unter den freien unisolierten Enden, lag der Hauer Johann Milbach. Er war sofort tot. Warum er die Enden berührt hatte, ob es ein Zufall war, es war nie mehr zu klären. Jemand behauptete, das Schild wäre heruntergefallen und Milbach wollte es wieder hinhängen. Auf jeden Fall war er tot. Vater von fünf Kindern. Peter Kaul wurde der Fahrlässigkeit angeklagt, aber dann ließ man die Anklage fallen. Er hatte ein Warnschild aufgehängt … mehr war nicht nötig.
    Für Peter Kaul selbst aber war der Fall Milbach nicht beendet. Beim Begräbnis stand er abseits und heulte, als er die Witwe Frida mit ihren fünf Kindern am Grab stehen sah, eine Familie, die er zerrissen hatte. Auch wenn sie alle im Betrieb sagten, er sei unschuldig … in ihm wuchs ein Schuldkomplex, der stärker war als seine Gegenwehr. Er zerbrach unter dem Vorwurf: Du bist ein Mörder! Du hast Milbach getötet! Du hast die Kabelenden nicht isoliert! Du hast fünf Kindern den Vater genommen! Du bist ein Mörder!
    Am Tag des Begräbnisses von Johann Milbach begann Peter Kaul, sich zum erstenmal richtig zu besaufen. Aber dann sagte er sich auch: Warum faßte er die Leitung an? Ich bin nicht schuldig.
    So ging es ein Jahr lang hin und her. Mal soff er, weil er sich als Mörder fühlte, mal überwies er anonym, unter falschem Namen, der Witwe Frida Milbach Geld, um zu sich selbst zu sagen: Er war mein Kamerad. Ich tue
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