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Das alte Königreich 01 - Sabriel

Titel: Das alte Königreich 01 - Sabriel
Autoren: Garth Nix
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Prolog
     
    Von der Mauer ins Alte Königreich waren es knapp drei Meilen, doch das war mehr als genug. In Ancelstierre, auf der anderen Seite der Mauer, strahlte die Mittagssonne am wolkenlosen Himmel, während hier, unter dichten Wolken, bereits der Abend anbrach. So rasch war es zu heftigem Regen gekommen, dass kaum genug Zeit blieb, das Zeltlager für die Nacht aufzuschlagen.
    Die Hebamme hüllte sich fester in den schützenden Umhang und beugte sich wieder über die Frau. Regentropfen perlten von ihrem Nasenrücken auf das ihr zugewandte Gesicht, und ihr Atem bildete einen weißen Dunst. Doch die Frau, die soeben entbunden hatte, atmete nicht mehr.
    Die Hebamme seufzte bedrückt und richtete sich schwerfällig auf. Ihre Bewegungen verrieten den Anwesenden alles, was sie wissen wollten. Die Frau, die sich in ihr Waldlager geschleppt hatte, war tot. Sie hatte sich gerade noch so lange ans Leben geklammert, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. Doch noch während die Hebamme das kleine Bündel neben der Toten hochhob, zitterte es kurz und wurde dann still.
    »Das Kind ebenfalls?«, fragte einer der Umstehenden, der das Chartersymbol* mit Holzasche auf seine Stirn gezeichnet hatte. »Dann ist eine Taufe ja nicht nötig.«
    * Die Charter (fern.) ist eine positive Macht, die im Alten Königreich zu Hause ist. Sie kann zum Schutz vor bösen Kräften und zur Abwehr von Dingen des Todes eingesetzt werden.
    Er wollte das Zeichen von seiner Stirn wischen, als bleiche Finger nach seiner Hand griffen und sie heftig hinunterzogen.
    »Friede!«, sagte eine ruhige Stimme. »Ich tue Euch nichts zu Leide.«
    Die blutlos bleichen Finger lösten sich von der Hand des Mannes. Von den anderen argwöhnisch beobachtet, trat ein schwarz gekleideter, hagerer Fremder in den Feuerkreis. Da war nicht einer, der den unheimlichen Besucher willkommen hieß, und die Hände wurden gehoben, um das Charterzeichen zu machen, Messer zu ergreifen oder Bogensehnen zu spannen.
    Der Fremde trat an die Leichen heran und musterte sie genau; dann wandte er sich den Leuten zu, schob seine Kapuze zurück und enthüllte ein Gesicht, das offenbar lange nicht die Sonne gesehen hatte, denn es war totenblass.
    »Ich werde Abhorsen genannt«, erklärte er, und seine Worte ließen die Menschen ringsum erschauern. »Es wird heute Abend noch eine Taufe geben.«
    Der Chartermagier blickte auf das Bündel in den Händen der Hebamme und sagte: »Das Kind ist tot, Abhorsen. Wir sind Nomaden. Unser Leben unter freiem Himmel ist hart und entbehrungsreich. Wir kennen den Tod, Herr.«
    »Nicht so, wie ich ihn kenne«, erwiderte Abhorsen und lächelte, dass die Mundwinkel in seinem papierweißen Gesicht sich verzogen und seine ebenso weißen Zähne zu sehen waren. »Und ich sage, dass dieses Kind noch nicht tot ist!«
    Der Chartermagier versuchte Abhorsens Blick standzuhalten, doch es gelang ihm nicht und so wandte er die Augen den anderen zu. Niemand rührte sich, bis eine Frau, offenbar die Stammesälteste, sagte: »Also gut, das wird sich erweisen. Zeichne das Kind, Arrenil. Wir werden an der Leovis-Furt ein neues Lager aufschlagen. Schließ dich uns wieder an, wenn du hier fertig bist.«
    Der Chartermagier nickte bestätigend. Widerstrebend packten die anderen zusammen, doch noch mehr widerstrebte es ihnen, in Abhorsens Nähe zu bleiben, denn allein sein Name barg schreckliche Geheimnisse und unaussprechliche Ängste.
    Als die Hebamme das Kind niederlegen wollte, um mit den anderen zu gehen, sprach Abhorsen: »Warte. Du wirst gebraucht!«
    Die Frau blickte auf das Neugeborene hinunter. Ein Mädchen, wie sie jetzt erst sah, das beinahe wirkte, als schliefe es nur ganz fest, wäre da nicht diese vollkommene Regungslosigkeit gewesen. Die Hebamme hatte von Abhorsen gehört, und wenn die Kleine tatsächlich leben konnte… Vorsichtig hob sie das Kind wieder auf und hielt es Arrenil hin, dem Chartermagier.
    »Wenn die Charter nicht…«, begann Arrenil, doch Abhorsen hob eine bleiche Hand und unterbrach ihn.
    »Lass uns den Willen der Charter sehen.«
    Arrenil blickte wieder auf das Kind und seufzte. Dann holte er eine kleine Flasche aus seinem Beutel, hielt sie in die Höhe und stimmte mit einem Sprechgesang einen Charterspruch an, in dem alles aufgezählt wurde, was lebte und wuchs, was dereinst gelebt hatte und was wieder leben würde, und in dem die Bande genannt wurden, die alles zusammenhielten. Währenddessen umstrahlte ein Licht die Flasche, das im Rhythmus des Gesangs
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