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Das alte Königreich 01 - Sabriel

Titel: Das alte Königreich 01 - Sabriel
Autoren: Garth Nix
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wieder auf das kleine Mädchen und fügte beinahe staunend hinzu: »Vater von Sabriel.«

     

1
    Das Kaninchen war erst vor wenigen Minuten überfahren worden. Seine rosa Augen waren glasig, und sein schneeweißes Fell, hier und da mit Blutflecken versehen, wirkte fast unnatürlich sauber, da das Tier offensichtlich vor einem unliebsamen Bad hatte Reißaus nehmen wollen. Noch immer roch es leicht nach Lavendelwasser.
    Über das Kaninchen beugte sich eine hoch gewachsene, eigenartig bleiche junge Frau. Ihr nachtschwarzes, modisch geschnittenes Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie trug weder Schminke noch Schmuck, und nur die emaillierte Schulmarke minderte die Strenge ihres dunkelblauen Blazers, der sie als Schülerin auswies, wie auch ihr langer Rock, die Strümpfe und das gute und feste Schuhwerk. Ein Namensschild unter der Schulmarke verriet, dass die junge Dame »Sabriel« hieß, und die »VI« sowie das vergoldete Krönchen zeigten, dass sie Schülerin der sechsten Klasse und Klassenführerin war.
    Das Kaninchen war tot. Sabriel wandte sich von dem Tier ab und blickte auf die gepflasterte Einfahrt, die in einer Kurve zu einem beeindruckenden, schmiedeeisernen Tor führte. Ein Schild darüber verkündete in großen, gotischen, vergoldeten Lettern, dass es das Tor des Wyverley College war. In kleineren Buchstaben stand darunter: »Gegründet 1652 für junge Damen aus gutem Hause«.
    Eine zierliche Gestalt kletterte rasch übers Tor und mied geschickt die spitzen Zacken, die solche Kletterpartien eigentlich verhindern sollten. Die letzten paar Fuß sprang die Gestalt. Ihre dünnen Zöpfe flatterten, bevor sie mit Hackenden Schuhen auf dem Pflaster landete. Rasch senkte sie den Kopf, doch als sie aufschaute, erblickte sie Sabriel und das tote Kaninchen und rief gellend:
    »Häschen!«
    Sabriel zuckte zusammen und zögerte flüchtig. Dann kniete sie sich neben das Kaninchen und legte eine bleiche Hand zwischen seine langen Ohren. Sie schloss die Augen. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert. Ein schwaches Pfeifen, wie ein Wind in weiter Ferne, kam über ihre leicht geöffneten Lippen. Frost bildete sich an ihren Fingerspitzen und überzog das Pflaster zwischen ihren Füßen und Knien.
    Das andere Mädchen, das übers Tor geklettert war, verharrte. Es sah, wie Sabriel plötzlich über das Kaninchen auf die Straße zu kippen schien, doch im letzten Moment gewann sie mit ausgestreckter Hand das Gleichgewicht zurück und hielt das Kaninchen fest – ein kleines Tier, das jetzt unerklärlicherweise wieder lebte, mit glänzenden Augen umherschaute und nach wie vor darauf erpicht schien, vor dem Bad Reißaus zu nehmen.
    »Häschen!«, rief das jüngere Mädchen aufs Neue, als Sabriel sich aufrichtete und das Kaninchen am Nacken in die Höhe hielt. »Oh, danke, Sabriel! Als ich den Wagen schlittern hörte, dachte ich schon…«
    Sie stockte, als Sabriel ihr das Tier reichte. Ihre ausgestreckten Hände waren blutig.
    »Es wird wieder ganz gesund, Jacinth«, versicherte Sabriel dem Mädchen. »Ist nur eine leichte Verletzung. Die Wunde hat sich schon wieder geschlossen.«
    Jacinth untersuchte Häschen sorgfältig; dann blickte sie zu Sabriel auf. Angst flackerte in ihren Augen.
    »Da… ist nichts… unter dem Blut«, stammelte sie. »Was hast du…?«
    »Nichts«, erwiderte Sabriel entschieden. »Aber vielleicht verrätst du mir, was du außerhalb der Schule zu suchen hast.«
    »Ich bin Häschen nachgelaufen.« Jacinth beruhigte sich, als das Leben wieder seinen normalen Lauf zu nehmen schien. »Ich… ich…«
    »Keine Ausreden«, sagte Sabriel streng. »Du weißt, was Mrs Umbrade am Montag beim morgendlichen Aufruf gesagt hat!«
    »Es ist keine Ausrede!«, versicherte ihr Jacinth. »Es ist ein Grund!«
    »Das kannst du alles Mrs Umbrade erklären.«
    »Sabriel! Du wirst mich doch nicht verpetzen! Du weißt, dass ich Häschen nachgelaufen bin, nichts sonst!«
    Sabriel hob beschwichtigend die Hände und deutete zum Tor. »Wenn du in drei Minuten im Haus bist, habe ich dich nicht gesehen. Und geh diesmal durchs Tor. Es wird erst geschlossen sein, wenn ich wieder drinnen bin.«
    Jacinth strahlte übers ganze Gesicht. Sie wirbelte herum und rannte die Einfahrt hinauf, Häschen an sich gedrückt. Sabriel blickte ihr nach, bis sie hinter dem Tor verschwunden war. Dann erst ergab sie sich dem eisigen Schauder, der ihren ganzen Körper erfasste: Ein Augenblick der Schwäche, und schon hatte sie das ihrem Vater und auch sich selbst gegebene
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