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Totenflut

Titel: Totenflut
Autoren: Bent Ohle
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Kapitel 1
    Nichts an dieser Nacht deutete darauf hin, dass sie grausam und blutig enden würde. Nichts deutete darauf hin, dass in dieser Nacht ein Leben gewaltsam beendet würde. Im Gegenteil. Diese Nacht war von Leben erfüllt. Ein ruhendes, friedvolles Leben, das auf dem Land zu liegen schien wie ein schlafendes Kind. Der Tod hatte hier keinen Platz. Der Tod gehörte nicht hierher. Er war ein Fremder auf dieser Erde, ein dunkler heimlicher Fremder. Er konnte gar nicht von dieser Welt sein, nein, nicht hier und nicht heute. Es sei denn, es gab noch eine zweite Welt. Eine Welt unter dieser. Eine unterirdische Zone, tief und kalt, und so dunkel, dass nie ein Lichtstrahl dorthin gelangen würde.
    In der warmen Sommerluft schwebten die Gerüche der Blumen und Gräser. Grillen zirpten, die Sterne standen klar und groß an dem weit aufgespannten Nachthimmel, und der Mond warf ein angenehm kühles Licht auf die Straßen und Felder.
    Auf einem kleinen Feldweg parkte ein roter VW Polo mit dem verschmutzten Rest eines abgerissenen Aufklebers auf der Heckklappe. Annette Krüger hatte den Polo einer älteren Dame abgekauft. Auf dem Aufkleber war der Name eines Kurorts zu lesen gewesen, an den sich Annette schon nicht mehr erinnern konnte. Doch damals hatte sie den Anblick dieses hässlichen Klebestreifens nicht ertragen können und ihn kurzerhand entfernt. Die Rückstände auf dem Lack waren ihr egal gewesen. Hauptsache, man konnte den albernen Sticker nicht mehr sehen.
    Annette saß mit Mike im Auto. Mikes Vespa stand rechts neben dem Polo. Der Motor war noch warm, als die beiden sich wieder anzogen. Annette knöpfte ihre Bluse zu, und als sie den letzten Knopf verschlossen hatte, erstarrte sie plötzlich. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mike, der noch mit bloßem Oberkörper neben ihr saß, bemerkte, dass etwas nicht stimmte.
    Â»Was ist?«, fragte er.
    Â»Ich kann das nicht mehr.«
    Mike verstand nicht. Er hatte keine Ahnung, wie die Situation, die für ihn vollkommen klar gewesen war, so unvermittelt hatte umschlagen können.
    Mikes ahnungsloses Erstaunen machte Annette aggressiv. Sie musste es tatsächlich erst aussprechen, damit er es kapierte.
    Â»Ich komm mir vor wie eine Nutte! Diese Treffen hier draußen im Auto. Eine schnelle Nummer und du fährst wieder zu ihr. Ich will das nicht mehr!«
    Â»Aber eben war doch noch alles in Ordnung!«
    Â»Nein, es war nie in Ordnung. Du musst es ihr endlich sagen! Oder ich werde es tun!«
    Â»Ich mach’s ja. Es ist nur gerade …«
    Â»â€¦ nicht der richtige Zeitpunkt«, beendete Annette den Satz für ihn. »Es wird nie der richtige Zeitpunkt sein, Mike. Nie! Weil es immer schwer sein wird. Egal wann. Aber langsam musst du dich entscheiden. Ich werde nicht länger auf einsamen Feldwegen auf dich warten. Ich bin mehr wert als das.«
    Sie nahm sein T -Shirt und drückte es ihm vor die Brust. Es war so eine wunderbare Nacht gewesen, doch jetzt war alles vorbei. Annette verlangte eine Entscheidung von ihm, gegen die er sich schon lange sträubte. Er spürte so etwas wie Erniedrigung, als er sich vor ihren Augen wieder anziehen musste. Vielleicht hatte auch sie sich erniedrigt gefühlt, doch in dieser Situation war es ihm egal.
    Â»Entweder du bist stark genug, um bei ihr zu bleiben, oder du bist stark genug, um zu mir zu kommen«, sagte sie und starrte dabei auf die schwarze Windschutzscheibe.
    Im Augenwinkel sah sie ihn aussteigen, und dann krachte die Tür ins Schloss. Sie hatte nicht streiten wollen. Sie hatte auch nicht gewollt, dass er ging. Sie wollte, dass er endlich zu ihr stand.
    Der Motor der Vespa röhrte auf. Es folgte die kurze Pause vor dem Abfahren, in der Mike sich immer den Helm aufsetzte. Genau in diesem Moment warf sich ein Schatten gegen ihr Seitenfenster. Als Annettes Kopf herumfuhr, war er bereits wieder verschwunden. Der Schreck fuhr ihr glühend heiß in die Knochen, und ihr Herz schlug so hart gegen ihre Brust, dass sie glaubte, es sprenge ihren Brustkorb. Es musste Mike gewesen sein, der noch einmal abgestiegen und zur Fahrertür gekommen war. Vielleicht wollte er ihr noch etwas sagen, sich entschuldigen oder ihr versichern, dass er jetzt endlich eine Entscheidung treffen würde. Doch kaum hatte sie diesen Gedanken beendet, hörte sie die Vespa auch schon losfahren.
    Â»Mike!«, rief sie ihm hinterher und war sich nicht sicher, ob es
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