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Die schwarzen Juwelen 04 - Zwielicht

Titel: Die schwarzen Juwelen 04 - Zwielicht
Autoren: Anne Bishop
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    Im Traum entfaltete sie die Flügel und segelte durch die Dunkelheit - eine weite Leere, die sich außerhalb des Körpers befand, für die der Körper jedoch gleichzeitig zum Gefäß wurde. Eine Kraft, die Herz und Verstand und Geist ansprach. In dieser Dunkelheit erklang das Flüstern der Schöpfung … und die Stille der Zerstörung. Ihr Volk hatte jahrelang seine spiralförmigen Kreise in den Klüften und Schluchten und seltsamen Abgründen der Dunkelheit gezogen - und hatte verstanden, dass es diesen Ort niemals durchdringen würde, der im Grunde gar kein Ort war.
    Im Traum hatte die Vision der Netze, die in der Dunkelheit schimmerten, sie nicht verwirrt und ihren Verstand übermannt. Sie war nicht für die Gefahren des Sturms blind geworden,
sondern hatte die Höhlen auf jener Insel erreicht, die sie zu ihrer letzten Ruhestätte auserkoren hatte. Doch sie hatte sich im Laufe des Gewittersturms tödliche Wunden zugezogen, und die Höhlen waren zu weit entfernt.
    Nein. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hätte all ihre Kraft aufwenden und ihren gebrochenen Körper zu den Höhlen bringen können, doch sie konnte ein leichtes Ziehen spüren, ein leises Versprechen, dass ihre einzigartige Gabe nicht verloren gehen würde, wenn sie blieb, wo sie war.
    Also sandte sie in einem Traum, der mehr als ein Traum war, ihre letzte Vision an ihre Mutter, Draca, und zeigte ihrer Königin, wie die neuen Hüter der Welt in der Lage sein würden, sicher durch die Dunkelheit zu reisen: schimmernde, farbige Netze der Macht erstreckten sich durch die leere Weite - Pfade, zu denen man von den Reichen aus gelangen konnte.
    Sie vermochte nicht zu sagen, weshalb die schöne Symmetrie des Netzes so stark in ihrem Inneren widerhallte, doch das Bild verblasste trotz der Todesqualen, die ihr Fleisch befallen hatten, nicht vor ihrem geistigen Auge. Ebenso wenig vermochte sie zu sagen, weshalb sie sich inmitten ihrer Visionen und Träume sicher war, dass sich in ihrer Nähe etwas Kleines und Goldenes befand, das in der Lage sein würde, ihre ganz besondere Gabe in sich aufzunehmen.
    Ihr blieb genug Zeit. Gerade genug Zeit. Falls dieses Wesen, aus dem eine Weberin werden konnte, wollte, was sie zu geben hatte.

4
    Lichtzeit... Tag. Dunkelzeit … Nacht. Obere Welt … Himmel. Raues … Baum. Das Harte … Schuppe. Dunkles Nass … Blut. Fleisch...
    Kummer. Schmerz. Sehnsucht. Verlangen. Hoffnung.
    … Drache.
    Sie selbst … Spinne. Klein. Golden.

    Nachdem diese eigenartigen Gedanken sie kurzzeitig abgelenkt hatten, kehrte die Spinne zu ihrer Arbeit zurück, rollte die zerrissenen Überreste ihres alten Netzes sowie die verworfene Beute zusammen und spann ein neues Netz. Sie spann jedoch nicht, um Beute zu fangen. Sie spann, um andere von dem Fleisch fern zu halten, das nicht nur ihren Körper nährte, sondern ihr außerdem von Dingen vorsang, von deren Existenz sie zuvor nichts geahnt hatte. Die Welt veränderte sich, während sie die Weberin in sich aufnahm und lernte, Vertrautes von einem neuen Blickwinkel aus zu betrachten.
    Auf einmal offenbarten sich uralte Muster im Vertrauten.
    Sie lernte, dass Weberinnen gebraucht wurden, die Träume zu Formen spinnen konnten, die sich durch die Welt bewegen konnten. Man brauchte Weberinnen, die Träume zu Fleisch spinnen konnten.
    Ihr Gift verflüssigte das Fleisch, damit sie es in sich aufnehmen konnte, doch noch hatte sie kein Verständnis für das Verlangen, das diesem Fleisch innewohnte. Wenn sie also des Nachts im Schutz der Schuppen in der Mulde saß, die sie selbst geschaffen hatte, trieb sie auf den verworrenen Seidenfäden der sehnsüchtigen Träume des Drachens entlang - und begann zu lernen, wie man eine andere Art von Netz webte.

5
    Vielleicht hatten die anderen Seherinnen Recht. Vielleicht war ihre besondere Gabe zu gefährlich, um sie den neuen Hütern der Reiche zu überlassen. Vielleicht gab es kein anderes Volk, das dazu in der Lage sein sollte oder konnte, die tiefsten Herzensträume zu nehmen und ihnen eine Brücke zu bauen, damit diese Träume Fleisch werden konnten.
    Doch die Welt würde derartige Träume benötigen. Davon war sie felsenfest überzeugt. Man würde sie benötigen - und es war unwahrscheinlich, dass auch nur die einfachsten dieser
Träume je Gestalt annehmen würden, denn sie hatte es nicht, wie beabsichtigt, zu den Höhlen geschafft. Sie würde nicht dieselbe Verwandlung wie die anderen ihres Volkes durchmachen, bei denen die Drachenschuppen zu Juwelen
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