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Totenflut

Titel: Totenflut
Autoren: Bent Ohle
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eine Warnung oder ein Hilferuf war. Im Rückspiegel sah sie ihn nach rechts auf die Landstraße abbiegen, dann entfernte sich der Lichtkegel immer weiter und weiter, und das Motorengeräusch verstummte wie der Nachhall eines Echos. Jetzt war sie allein auf dem Feldweg, und von außen drückte die dunkle Nacht gegen die Fenster.
    Annette konnte nichts sehen, aber sie fühlte sich beobachtet. Da war etwas. Etwas lauerte da draußen auf sie, da war sie sich mit einem Mal vollkommen sicher. Etwas, das sie daran hindern wollte, in ihr Leben jenseits der Dunkelheit zurückzukehren. Sie streckte ihre zitternde Hand aus und bekam den Zündschlüssel zu fassen. Ruckartig drehte sie ihn herum, schaltete das Licht ein und gab Gas. Der Motor heulte im Leerlauf auf. Annette legte mit fahrigen Bewegungen den Rückwärtsgang ein. Jetzt musste sie sich umdrehen. Annette fühlte Panik in sich aufsteigen und traute sich kaum, aus der Heckscheibe zu schauen, weil sie vor ihrem geistigen Auge dort im roten Schein des Rücklichts schon denjenigen stehen sah, der den Schatten an ihr Fenster geworfen hatte und jetzt bereit war, sie zu töten. Ein großer Mann im schwarzen Mantel, mit hängenden Armen und narbigem Gesicht. Doch als sie sich umsah, konnte sie lediglich den Grasstreifen in der Mitte des Weges erkennen. Sie gab Gas und fuhr, schneller als sie es sonst tat, rückwärts auf die Landstraße. Noch im Rollen schaltete sie in den ersten Gang und trat das Pedal durch. Mit quietschenden Reifen fuhr sie an und beschleunigte schnell auf 90 Stundenkilometer.
    Erst jetzt fühlte sie sich sicher. Ihr eigenes Verhalten kam ihr plötzlich völlig kindisch und lächerlich vor. Annette sah sich im Rückspiegel an und musste laut lachen.
    Â»Angsthase! Häsin! Bunny! Du Angstbunny!« Sie lachte über ihre neue Wortkreation und schaltete das Radio ein. Sie kannte den Song. Run to You von Bryan Adams. Und gerade als sie den Mund öffnete, um mitzusingen, sah sie ihn.
    Â»Scheiße!«, flüsterte sie und trat auf die Bremse.
    Kapitel 2
    Es war 7 Uhr morgens, als Schröder den Frühstückstisch deckte. Die Kaffeemaschine gurgelte und warf Wasserdampf gegen die Scheibe des Küchenfensters. Schröder zog die Kanne heraus und schenkte sich und seinem Vater eine Tasse ein. Karl sah geduldig dabei zu und nickte, um sich zu bedanken. Er war noch zu müde zum Sprechen. Sein linker Arm lag steif und angewinkelt an seinem Körper an. Er war nach einem Schlaganfall gelähmt. Karl nahm sich ein Brot und legte es auf sein Frühstücksbrett, das mit stumpfen Nägeln versehen war, um ein Wegrutschen den Brotes zu verhindern, wenn er es schmierte. Mit der Butter klappte es ganz gut, doch die Marmelade rutschte ihm immer wieder vom Messer. Ohne ein Wort zu sagen, griff Schröder über den Tisch und half seinem Vater.
    Es war ein Morgen, so wie alle anderen Morgen seit vier Jahren auch. Die Abläufe am Tisch waren immer die gleichen, und es kam selten vor, dass die beiden ein Wort miteinander wechselten, außer vielleicht an den Tagen, an denen Schröder nicht arbeiten musste. Doch diese Tage waren sehr selten.
    Der Schlaganfall hatte ihrer beider Leben von Grund auf verändert. Karl und Schröder hatten bis dahin allein gelebt. Sie hatten sich vielleicht fünf oder sechs Mal im Jahr gesehen, trotzdem hatte Schröder nicht gezögert, seinen Vater bei sich aufzunehmen. Ein Heim konnte er sich bei seinem Gehalt nicht leisten. In der Anfangszeit kam zweimal pro Tag ein ambulanter Pflegedienst, bis Karl nach einem Jahr wieder in der Lage war, selbstständig zu gehen und kleinere Handgriffe im Haushalt zu erledigen. Aber er brauchte nach wie vor Hilfe beim Anziehen, Waschen und Essen.
    Nach dem Frühstück legte sich Karl auf die Couch, und Schröder gab ihm die Fernbedienung für den Fernseher, bevor er zur Arbeit fuhr.
    Â»Ich muss jetzt los.«
    Â»Kannst du meinen Arm noch strecken?«
    Den Spasmus im linken Arm konnte Karl nicht selber lösen. Die Physiotherapeutin hatte Schröder einen Trick gezeigt, mit dem er seinem Vater etwas Erleichterung verschaffen konnte. Schröder beugte sich über seinen Vater und griff mit einer Hand an den Oberarm und mit der anderen an Karls Handgelenk. Nachdem er leichten Zug auf den Oberarm ausgeübt hatte, konnte er nun den Unterarm strecken. Und während er das tat, öffnete sich Karls zur Faust
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