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Totenflut

Titel: Totenflut
Autoren: Bent Ohle
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Ausdruck in seinen Augen wich einer naiven, hilflosen Verletzlichkeit. Seine Lippen zogen sich breit und breiter, die Unterlippe stülpte sich um, die Mundwinkel zogen sich nach unten. Er weinte, er weinte wie ein kleines Kind.
    Â»Mein Junge!«, sagte Brender erneut und streckte seine Arme aus. Axels kindliches Gesicht verwandelte sich immer weiter. Der Ausdruck von Schmerz und Qual ließ das Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse werden. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, so weit, dass seine Haut zu reißen drohte. Ein heiserer, krächzender Laut entfuhr seiner Kehle. Seine Augen glänzten in heißen Tränen, und er begann zu heulen. Er heulte wie in einem Krampf. Zuckungen ruckten durch seinen Körper. Seine Brust hob und senkte sich wie in einem Spasmus. Jetzt streckte auch er seine Hände aus. Er wollte die Hände seines Vaters nehmen und sich von ihnen halten lassen. Er wollte zurückkehren nach Hause. Brender ging auf die Knie und berührte die Finger seines Sohnes. Die Berührung durchfuhr beide wie ein Stromschlag. Schröder lag jetzt zwischen ihnen wie eine Barriere. Er wollte sich dem entziehen, wollte aus der Gefahrenzone heraus. Es war jetzt eine Sache zwischen Vater und Sohn, ihnen und ihrer Vergangenheit. Schröder winkelte sein Bein an und wollte sich nach oben schieben, doch sein Körper war taub. Taub vor Erschöpfung und taub vor Kälte. Er rutschte herunter. Eine kurze Bewegung, ein kleines Geräusch, und schon fuhr ein anderer Mensch zurück in Axels Körper wie eine Hand, die sich in einen Handschuh schob. Sein Blick war wieder wach, die Grimasse fiel von ihm ab. Er blickte zu Schröder, blickte zu seinem Vater und den Männern, die hinter ihm standen. Dann explodierte seine Bewegung förmlich. Er schoss nach vorn und griff das Gesicht seines Vaters mit beiden Händen. Und er begann zu schreien. Brender verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten um. Sein Sohn drückte ihn unter Wasser. Und schon fielen die Schüsse. Sie waren so laut, dass Schröder glaubte, der Tunnel bräche zusammen. Axels Hemd platzte an mehreren Stellen auf. Die Kugeln durchschlugen seinen Körper und warfen ihn nach hinten. Brender tauchte wieder auf, und die Schützen hoben ihre Gewehrläufe in die Luft. Die Schüsse hallten noch durch die Kanalisation, als Brender zu seinem Sohn kroch und ihn an sich riss. Er hielt seinen Kopf und wiederholte immerzu ein Wort, wie in einem endlosen Gebet. »Nein, nein, nein!« Seine Stimme wurde immer lauter und steigerte sich zu einem Schreien. Jedes Mal, wenn der Körper seines Sohnes ihm zu entgleiten drohte, hob er ihn wieder auf seine Beine und hielt ihn fester. Es war, als wolle Brender seinen Sohn dem Tod entreißen, dem Wasser entreißen, dem dunklen Gewölbe entreißen, seiner Mutter entreißen. Er wollte ihn retten, endlich retten, endlich das tun, was er sein Leben lang hatte tun wollen. Doch es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr. So sehr er sich auch dagegen wehrte.
    Die Stimme Brenders hallte durch die Adern der Stadt. Tief unter ihrer Haut breitete sich sein Schreien aus, füllte jede Ader, jede Vene, jede Kapillare. Seine Stimme war überall zu hören. Traber hörte sie, Marie hörte sie, Mike hörte sie, Annettes Eltern hörten sie. Sie hörten die Stimme und wussten, was sie bedeutete.
    Kapitel 41
    Schröder erwachte in einem Krankenzimmer. Er war in ein Stufenbett gelagert, in dem seine Beine im Neunzig-Grad-Winkel auf einem Schaumstoffwürfel lagen. Eine Infusion hing an seiner linken Hand. Karl saß an einem kleinen Tisch vor dem Fenster und las in der Tageszeitung.
    Â»Papa?«
    Karl fuhr herum und sah seinen Sohn mit großen Augen an.
    Â»Junge!«, sagte sein Vater und kam zu ihm ans Bett.
    Â»Du bist wach! Wie kann man eigentlich so lange schlafen?«, fragte Karl und legte Schröder eine Hand auf die Wange.
    Â»War ziemlich müde.«, sagte Schröder.
    Ein zweiter Stuhl wurde nach hinten geschoben. Er stand verdeckt hinter dem Stufenbett, sodass Schröder nicht sehen konnte, wer sich noch im Raum befand.
    Als Elins Gesicht plötzlich auftauchte, durchfuhr Schröder ein Stromstoß. Es war, als schlüge ihm eine riesige Faust auf die Brust und sein Herz bliebe plötzlich stehen.
    Â»Hallo, Schröder!«
    Schröder war zu keiner Antwort fähig. Er war einfach nur unendlich erleichtert, dass er ihr
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