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Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Titel: Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Autoren: Petra Oelker
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    Prolog
    Frühsommer 1881
    B is zu jenem Tag, an dem sie das Loch in der Hecke entdeckte, war Henrietta ein braves Kind mit einer großen Taftschleife im Haar. Wenn man acht Jahre alt ist, bedeutet ein Loch in der Hecke ein Tor zur Welt, zum Abenteuer, um hindurchzukriechen, braucht besonders ein braves Kind Mut und Bereitschaft zu rebellischen Momenten. Und Neugier? Die spürt ohnedies jedes Kind. Selbst wenn eine Reihe von Gouvernanten unermüdlich daran arbeitet, ihrem Schützling diese Untugend auszutreiben. Henrietta war auch ein stilles Kind, denn ihr Herr Papa hatte sie am liebsten, wenn sie brav und still war. Da es ihre Mama nur noch in ihren Träumen, auf dem Gemälde in der Diele und den beiden silbergerahmten Fotografien in Papas und Henriettas Zimmer gab, bemühte sie sich, immer brav zu sein, was überwiegend gelang. Bis eben zu jenem Tag, an dem sie das Loch in der Hecke entdeckte.
    Mit acht Jahren war sie kein Dummerchen mehr, sondern ein Fräulein mit Erfahrung. Sie hatte nicht verstanden, warum Papa und Onkel Friedrich sich so amüsierten und Mademoiselle scharf den Atem einzog, als sie diese Neuigkeit beim Nachmittagstee auf der Terrasse kundgetan hatte. Natürlich wusste sie, dass es hinter der Hecke am Elbhang eine bunte und sehr gefährliche Welt gab, sie kannte sie auf eine Weise, die sich für ein Mädchen aus gutem Hause schickt: von der Kutsche aus, wenn sie zu den Verwandten in die Villa mit den Türmchen, Erkern und dem noch größeren Garten fuhr. Papa sprach vom ‹dicken weißen Schloss›, was sie in Gegenwart der Schlossbewohner allerdings keinesfalls wiederholen durfte. Einige Male war sie mit Mademoiselle auch mit dem kleinen Fährdampfer nach Hamburg gefahren, was sich schon sehr nach Abenteuer anfühlte, und im Sommer ging es in die Ferien nach Travemünde oder Scharbeutz, sonntags immer in die Nienstedtener Kirche, wo man einige sehr interessante Leute traf. Die rochen seltsam und trugen nur an sehr kalten Wintertagen Handschuhe.
    Aber bis auf die Besuche im ‹Schloss› an der Außenalster verließ das Kind die im Vergleich zu benachbarten Anwesen bescheidene Villa am Elbhang nur in Begleitung der jeweiligen Gouvernante. Sie waren alle nicht mehr ganz junge Damen aus Frankreich oder der Schweiz. Seltsamerweise blieben sie nie lange, was wirklich nicht an Henrietta lag, dem braven Kind, sondern einerseits an Papa, der sich leicht in seiner Ruhe gestört sah, andererseits an den Damen, wenn sie sich in der Hoffnung auf eine angenehmere Zukunft zu sehr bemühten, ihrem Dienstherrn die Einsamkeit zu vertreiben.
    In Henriettas achtem Frühling wachte eine Schweizerin aus Bern über ihre Erziehung. Ihr Französisch lag erheblich unter den Erwartungen Papas, der nicht bedacht hatte, in welchem Teil der Schweiz Bern lag, aber das machte sie durch ihre gemütliche Art und Erscheinung und den völligen Mangel an Ambitionen hinsichtlich des Hausherrn wett. (Leider heiratete Mademoiselle Ackermann schon nach einem Jahr Papas Weinhändler und zog mit ihm zur Gründung einer neuen Filiale nach Magdeburg, wobei strittig blieb, ob der Verlust eines verlässlichen Weinhändlers oder einer nachsichtigen Gouvernante schwerer wog.)
    Mademoiselle Ackermann fand, kleine Mädchen sollten täglich üben, sich zwei Stunden selbst zu beschäftigen. Diese unendlich lange Zeit musste Henrietta einfach dazu verführen, einem über den Rasen hoppelnden Kaninchen zu folgen (die durch die Krone der alten Rotbuche hüpfenden Eichhörnchen waren leider unerreichbar) und bisher gemiedene, düstere Ecken des Gartens zu erkunden. Da niemand auf die Idee gekommen war, ein braves Kind mit einer Taftschleife im Haar könne überhaupt Lust dazu verspüren, war es nicht verboten worden. Ein echtes Versäumnis, das ihr Leben nicht nachhaltig verändern, aber doch weit in die Zukunft hinein beeinflussen sollte.
    Womöglich war das Loch in der Hecke schon immer da gewesen und nur dem Blick des Gärtners entgangen; Papa spazierte niemals dorthin, wo aus Eiben und anderem, zumeist stacheligem Gesträuch eine kleine, das Anwesen hier nach außen hermetisch abschließende Wildnis gepflegt wurde. Womöglich war es erst im gerade vergangenen strengen Winter entstanden. Erstaunlich war nur, dass dieses Loch und auch das im dahinterliegenden Zaun bis in den Sommer hinein nicht geschlossen wurden. Beide waren gerade weit genug, dass ein großer Hund oder ein kleines Mädchen hindurchschlüpfen konnten, ohne
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