Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Tag ein, an dem Susanne Kaul im Kreißsaal der Frauenklinik lag und ihr viertes Kind gebar. In der Nacht hatten die Wehen begonnen, aber sie hatte Peter schlafen lassen, bis sich ihr Körper in Abständen von fünf Minuten aufbäumte und es unmöglich war, ihm weiter den Schlaf zu gönnen. Der Krankenwagen brachte Susanne und Peter dann in die Frauenklinik, während die Nachbarin herüber kam, sich in die Ehebetten legte und auf die Kinder aufpaßte.
    »Es kann noch etwas dauern«, hatte der Arzt in der Klinik nach der ersten Untersuchung gesagt. »Das vierte, sagen Sie? Na, dann kennen Sie das ja. Ihre Frau hat ein ziemlich enges Becken, aber wo drei gekommen sind, bleibt das vierte nicht stecken.«
    Der übliche Medizinerwitz. Peter Kaul bedankte sich höflich und fuhr wieder nach Hause. Da sein Bett von der Nachbarin besetzt war, legte er sich in der Küche auf das alte Sofa und verbrachte die paar Stunden bis zum Morgen in einem unruhigen Halbschlaf.
    Mit der Post kam dann der Brief von Dr. Hütli. Er schrieb:
    »Es macht uns Freude, zu berichten, daß Gundi sich sehr wohl fühlt, vier Pfund zugenommen hat und ein liebes, freundliches Kind ist. Der erste große Erfolg unserer Behandlung ist gestern eingetreten. Gundi konnte bereits für einige Minuten frei stehen, und jetzt ist sie in der Laufmaschine drei Schritte gelaufen. Täglich üben wir, und es macht ihr viel Spaß …«
    Sie läuft, dachte Peter Kaul und las immer wieder die wenigen Zeilen des Dr. Hütli. Sie wird nicht für alle Zeiten ein kriechendes Tier bleiben, sie wird ein Mensch sein wie wir alle. Mein Gott, mag sie dumm bleiben, einfältig oder kindisch … aber sie wird an meiner Hand gehen können, sie wird ihre Umwelt erkennen, die Vögel singen hören, die Blumen blühen sehen. Sie wird tatsächlich ein Mensch sein!
    Er faltete den Brief zusammen, holte aus dem Keller sein altes Fahrrad und radelte zur Frauenklinik. Auf dem Weg dorthin kam er an dem verwaisten Pfarrhaus von St. Christophorus vorbei. Ein junger Vikar versah bis zum Eintreffen eines neuen Pfarrherrn den Dienst im Sprengel. Die Fenster von Merckels Arbeitszimmer standen weit offen. Die Haushälterin, in tiefem Schwarz wie eine Witwe, putzte die Scheiben.
    Peter Kaul machte einen Umweg zur Klinik. Er fuhr erst zum Friedhof und suchte das Grab Merckels. Ein frischer Hügel mit den kaum verwelkten Kränzen und Buketts. Er hatte ein Begräbnis gehabt wie ein Staatsmann. Nicht nur seine ganze Gemeinde zog hinter seinem Sarg her, sondern auch ein Block berühmter Namen, von Prof. Brosius bis zum Oberstadtdirektor, von Dr. Linden bis zum Regierungspräsidenten. Auch der Bischof war gekommen und segnete den Toten ein. Er wußte – wie die wenigen Eingeweihten –, welches Schicksal dort in die schmale, mit Tannengrün ausgeschlagene Grube gesenkt wurde. Der Kirchenchor sang am Grab – es wurde ein kläglicher Gesang, denn den meisten war die Kehle wie zugeschnürt, sie gab nur gequetschte, unschöne Töne frei.
    »Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte Peter Kaul leise am Grab und faltete die Hände. »Gundi wird laufen können. Das verdankt Sie nur Ihnen. Warum konnten Sie das nicht mehr erleben …«
    In der Klinik empfing Peter Kaul die Kreißsaalschwester mit ausgestreckten Händen.
    »Gratuliere!« sagte sie, ehe Kaul fragen konnte. »Ein Junge! Sieben Pfund schwer, gesund und kräftig. Vor zehn Minuten ist er gekommen!«
    Aus einem Zimmer tönte ein helles, noch zittriges Schreien. Susanne war noch im Kreißsaal, sie wurde genäht.
    »Ist er das?« fragte Kaul leise.
    »Ja! Der hat eine Stimme, nicht wahr?«
    Kaul nickte stumm.
    Er ist gesund, das war alles, was ihn in diesem Augenblick ergriff. Er schluckte ein paarmal und sah die junge Schwester an.
    »Ganz gesund?« fragte er heiser. »Sie irren sich auch nicht? Kein Bein verkrüppelt, kein Arm, kein Mongolengesicht?«
    »Aber nein, warum denn? Es ist ein ausgesprochen schönes Kind …«
    »Warum denn? O Schwester, welche Frage.« Peter Kaul lehnte sich an die Wand. Mit dem Handrücken wischte er sich kalten Schweiß aus dem Gesicht. »Wenn man neun Monate lang auf eine Strafe wartet … das zermürbt, das macht einen fertig, da büßt man sein ganzes früheres Leben ab …«
    »Sie können Ihren Sohn in einer halben Stunde sehen, Herr Kaul.«
    »O danke. Und meine Frau?«
    »Vielleicht etwas früher. Bitte, warten Sie im Zimmer auf Ihre Familie.« Die kleine Schwester lächelte ihn madonnenhaft an. Wie alle jungen Väter,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher