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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer
Autoren: Jeffery Deaver
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entscheiden, ob er den Notfallknopf drücken musste.
    Dies war immerhin Manhattan.
    Der heutige Tag war wunderschön, klar und kühl. April. Einer seiner Lieblingsmonate. Es war ungefähr elf Uhr dreißig, und der Bus war voll. Die Leute fuhren nach Osten, weil sie zum Essen verabredet waren oder in ihrer Mittagspause etwas erledigen wollten. Der Verkehr floss gemächlich, und der riesige M70 hatte die Haltestelle fast erreicht. Vier oder fünf Leute standen dort und warteten.
    Der Blick des Fahrers streifte das alte braune Gebäude hinter der Haltestelle. Es musste Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden sein. Die Fenster waren vergittert, und drinnen war es immer dunkel. Er hatte noch nie jemanden hinein- oder hinausgehen gesehen. Ein unheimlicher Bau wie ein Gefängnis. An der Wand hing ein Schild mit abblätternder weißer Schrift auf einem blauen Hintergrund.
    ALGONQUIN CONSOLIDATED POWER
AND LIGHT COMPANY
UMSPANNWERK MH-10
PRIVATGELÄNDE
ACHTUNG! HOCHSPANNUNG!
BETRETEN VERBOTEN!
    Normalerweise achtete der Fahrer kaum auf das Haus, aber heute kam es ihm so vor, als wäre etwas anders als sonst. Etwa
dreieinhalb Meter über dem Boden hing ein Kabel aus einem der Fenster. Es war mehr als einen Zentimeter dick und in eine dunkle Ummantelung gehüllt. Nur am Ende war das Plastik oder Gummi entfernt worden, sodass man die silbrigen Metallstränge sehen konnte, die an einer Art Beschlag befestigt waren, einem flachen Stück Messing. Was für ein mächtig fettes Teil, dachte der Fahrer.
    Und es hing einfach so aus dem Fenster. War das nicht gefährlich?
    Er hielt den Bus an und betätigte den Türöffner. Das große Fahrzeug senkte sich zum Bürgersteig ab. Die unterste Metallstufe befand sich nun unmittelbar über dem Gehweg.
    Der Fahrer wandte sein breites, rötliches Gesicht der Tür zu, die sich mit einem satten Zischen der Hydraulik öffnete. Die Fahrgäste stiegen ein. »Guten Tag«, begrüßte der Fahrer sie freundlich.
    Eine Frau von mehr als achtzig Jahren, die eine alte, schäbige Einkaufstasche umklammert hielt, nickte ihm zu und humpelte mit ihrem Gehstock nach hinten durch, obwohl die freien Sitze im vorderen Bereich für Senioren und Behinderte reserviert waren.
    Musste man die New Yorker nicht einfach lieben ?
    Plötzlich bewegte sich etwas im Rückspiegel. Blinkende gelbe Signalleuchten, die schnell näher kamen. Ein Transporter hielt hinter dem Bus. Algonquin Consolidated. Drei Arbeiter stiegen aus, blieben dicht nebeneinander stehen und besprachen etwas. Sie hatten Werkzeugkästen mitgebracht und trugen dicke Handschuhe und Jacken. Und sie sahen nicht glücklich aus, als sie nun langsam auf das Gebäude zugingen und dabei immer noch miteinander redeten. Einer schüttelte unheilvoll den Kopf.
    Dann schaute der Fahrer zu dem letzten Passagier, der soeben zusteigen wollte, einem jungen Latino, der seine MetroCard in der Hand hatte und vor dem Bus innehielt. Auch er musterte
das Umspannwerk. Runzelte die Stirn. Dem Fahrer fiel auf, dass er den Kopf reckte, als würde er irgendetwas riechen.
    Ein beißender Geruch. Nach Verbranntem. Der Fahrer musste unwillkürlich daran denken, wie bei ihm zu Hause mal der Elektromotor der Waschmaschine einen Kurzschluss erlitten hatte und die Isolierung verschmort war. Ein widerlicher Gestank. Aus der Tür des Umspannwerks wehte ein Rauchfetzen.
    Deshalb also waren die Leute der Algonquin hier.
    Was für ein Mist. Der Fahrer fragte sich, ob hier ein Stromausfall drohte, der auch die Ampeln betreffen würde. Damit wäre der Tag für ihn gelaufen. Die Fahrt quer durch die Stadt würde nicht zwanzig Minuten, sondern Stunden dauern. Na ja, wie dem auch sei, er sollte mal lieber für die Feuerwehr Platz machen. Er winkte den Fahrgast hinein. »He, Mister, ich muss los. Kommen Sie, steigen Sie ein.«
    Als der Passagier, der noch immer wegen des Gestanks die Stirn runzelte, sich abwandte und in den Bus stieg, hörte der Fahrer aus dem Innern des Umspannwerks mehrmals etwas knallen. Es war laut, fast wie Schüsse. Dann erfüllte ein Lichtblitz, hell wie ein Dutzend Sonnen, den gesamten Bürgersteig zwischen dem Bus und dem Kabel, das aus dem Fenster hing.
    Der Fahrgast verschwand einfach in einer Wolke aus weißem Feuer.
    Der geblendete Fahrer hatte nur noch ein paar graue Nachbilder vor Augen. Der ohrenbetäubende Lärm war wie eine Mischung aus gewaltigem Knistern und der Entladung einer Schrotflinte. Obwohl der Mann den Sicherheitsgurt angelegt hatte, wurde sein
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