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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer
Autoren: Jeffery Deaver
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und überführen können, sondern einfach, um unseren Fingern sicheren Halt zu verleihen, sodass etwas Kostbares oder Notwendiges oder Unbekanntes nicht einfach unserem schwachen Griff entgleitet.
    Wir verfügen schließlich nicht über Krallen, und unser Muskeltonus – tut mir leid, ihr begeisterten Bodybuilder – ist ein Witz, vergleicht man ihn mit der Leistungsfähigkeit eines beliebigen wilden Tiers von vergleichbarer Masse.
    Lincoln Rhyme schaute kurz zu Amelia Sachs, die in drei Metern Entfernung zusammengerollt auf einem Sessel schlief und dabei merkwürdig zufrieden und ruhig wirkte. Ihr rotes dichtes Haar hing gerade nach unten und verbarg eine Hälfte ihres Gesichts.
    Es war fast Mitternacht.
    Er dachte weiter über die Papillarleisten nach, die es sowohl auf Fingern und Zehen gibt als auch auf Handflächen und Fußsohlen. Man kann durch einen Fußabdruck genauso mühelos überführt werden wie durch einen Fingerabdruck, wenngleich die Umstände des betreffenden Verbrechens sicherlich etwas ungewöhnlich wären.
    Der individuelle Charakter der Fingerabdrücke ist schon lange bekannt – bereits vor achthundert Jahren wurden damit offizielle
Dokumente beglaubigt –, aber erst im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts setzte sich die Idee durch, mit ihrer Hilfe eine Verbindung zwischen Täter und Tatort herzustellen. Die weltweit erste Fingerabdruck-Abteilung einer Strafverfolgungsbehörde wurde in Kalkutta, Indien, unter der Leitung von Sir Edward Richard Henry gegründet, dessen Name für die nächsten hundert Jahre das polizeiliche Klassifizierungssystem für Fingerabdrücke bezeichnete.
    Der Anlass für Rhymes Überlegungen war die Tatsache, dass er gerade seine eigenen Fingerabdrücke betrachtete, genauer gesagt die Papillarleisten seiner Fingerkuppen. Zum ersten Mal seit Jahren.
    Zum ersten Mal seit dem Unfall auf der U-Bahn-Baustelle.
    Sein rechter Arm war erhoben und am Ellbogen gebeugt, die Hand am Gelenk in seine Richtung gedreht, und er starrte konzentriert auf die Muster. Er empfand ein aufrichtiges Hochgefühl, so als hätte er die winzige Faser gefunden, die eine Partikelspur, den schwachen Abdruck im Schlamm, der es ihm erlaubte, eine Verbindung zwischen dem Verdächtigen und dem Tatort zu erkennen.
    Der Eingriff war erfolgreich verlaufen: die Implantation des Computers und der Kabel, die durch Bewegungen von Kopf und Schultern oberhalb der Verletzung kontrolliert wurden. Rhyme hatte bestimmte Muskeln an Nacken und Schulter angespannt, um behutsam den Arm zu heben und das Handgelenk zu drehen. Er hatte lange davon geträumt, die eigenen Fingerkuppen wieder zu Gesicht zu bekommen, und er hatte beschlossen, dass dies das Erste wäre, was er tun würde, sollte sich jemals die Möglichkeit ergeben.
    Selbstverständlich lag nun eine lange Therapie vor ihm. Und weitere Operationen. Eine Nervenumleitung, die wenig Einfluss auf die Mobilität haben würde, aber manche Körperfunktionen verbessern konnte. Dann eine Stammzellenbehandlung. Und
auch weiterhin sein gewohntes Training: der Laufapparat, das Fahrrad und die Bewegungsübungen.
    Viele Einschränkungen würden bleiben – Thoms Job war in keiner Weise gefährdet. Auch wenn Rhyme Arme und Hände bewegen konnte, auch wenn seine Lunge besser als je zuvor arbeitete und die diversen Dinge unterhalb der Gürtellinie sich denen eines Nichtbehinderten annäherten, hatte er nach wie vor kein Gefühl im Körper, war immer noch anfällig für Infektionen und würde nicht gehen können – vermutlich niemals mehr oder zumindest für viele Jahre nicht. Doch das kümmerte Lincoln Rhyme nicht. Er hatte bei seiner Arbeit gelernt, dass man so gut wie nie auf hundert Prozent des Gewünschten kam. Doch wenn man sich anstrengte und die Umstände es zuließen – von »Glück« würde Rhyme in diesem Zusammenhang natürlich nie sprechen –, reichte das Ergebnis meistens aus, um den Täter zu identifizieren, zu verhaften und zu verurteilen. Außerdem war Lincoln Rhyme ein Mann, der Ziele benötigte. Er lebte dafür, Lücken zu füllen und sich ständig neu zu beweisen, wie auch Sachs sehr wohl wusste. Sein Leben wäre sinnlos, gäbe es nicht immer eine Aufgabe zu erledigen und danach eine weitere.
    Nun spannte er erneut und sehr vorsichtig einige Muskeln am Hals an, drehte die Hand zurück und senkte sie auf das Bett. Das lief ungefähr so koordiniert ab wie bei einem neugeborenen Fohlen, das aufzustehen versucht.
    Dann machten sich die Erschöpfung und
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