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Schwanengesang (German Edition)

Schwanengesang (German Edition)

Titel: Schwanengesang (German Edition)
Autoren: Andreas Hoppert
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    Es lief nicht gut.
    Es lief sogar überhaupt nicht gut.
    Der Staatsanwalt hatte sich gerade wieder gesetzt und Marc warf dem neben ihm sitzenden Angeklagten einen raschen Blick zu. Allerdings schien sein Mandant gar nicht mitzubekommen, was um ihn herum passierte.
    Der Mann war Anfang zwanzig, spindeldürr, hatte einen Ziegenbart, stank wie ein Iltis und litt offensichtlich unter starken Entzugserscheinungen: Seine Pupillen waren riesig, die Hände zitterten unkontrolliert, die Nase lief und die Augen tränten. Außerdem schien er gleichzeitig zu schwitzen und zu frieren, denn auf seinen blassen, tätowierten Armen hatte sich über einer extremen Gänsehaut ein Schweißfilm gebildet.
    Ein anderer Verteidiger hätte wahrscheinlich eine Vertagung wegen Verhandlungsunfähigkeit beantragt, aber Marc wollte diese Sache genauso schnell vom Tisch haben wie alle anderen Beteiligten.
    »Herr Hagen, wenn ich dann auch um Ihr Plädoyer bitten dürfte«, wurde er von der Stimme des Vorsitzenden aus seinen Gedanken gerissen.
    »Selbstverständlich, sofort«, antwortete Marc und fügte in Gedanken hinzu: Sobald ich auch nur die geringste Ahnung habe, was ich sagen soll. Er spürte, dass in diesem Moment alle Blicke auf ihn gerichtet waren: die des Vorsitzenden, die des Staatsanwaltes und die der Schüler auf den Zuschauerbänken.
    Die Luft im Saal war zum Schneiden und Marc lockerte seine Krawatte, die Melanie ihm zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
    Da sein Geistesblitz bisher ausgeblieben war, versuchte er Zeit zu gewinnen, indem er in seinen Unterlagen herumkramte. Gleichzeitig verfluchte er sich dafür, dass er diesen Fall angenommen hatte.
    Der Vorsitzende hatte ihn gestern Nachmittag in seiner Kanzlei angerufen und gefragt, ob er eine Pflichtverteidigung übernehmen wolle. Selbstverständlich war Marc einverstanden gewesen. Er konnte es sich einfach nicht leisten, auch nur ein Mandat abzulehnen.
    Erst nach seiner Zustimmung war der Richter mit dem ›kleinen Haken‹, wie er es genannt hatte, herausgerückt: Die Hauptverhandlung sollte schon am nächsten Tag stattfinden. Die Bestellung des bisherigen Pflichtverteidigers war zurückgenommen worden, weil er sich mit dem Angeklagten überworfen hatte. Der Vorsitzende hatte händeringend nach einem Ersatz gesucht.
    Mit Sicherheit hatte der Richter in dieser Situation als Erstes an Marc gedacht. In den letzten Jahren hatte sich Marc unter den Bielefelder Strafrichtern den Ruf eines Mannes erworben, mit dem man reden konnte, was so viel hieß wie: Er war als Verteidiger bekannt, der den Richtern nicht allzu viel Arbeit machte.
    Ganz im Gegensatz zu seinem besten Freund Gabriel Wagner, der nach der Trennung von seiner Frau mittlerweile wieder in Bielefeld als Anwalt tätig war. Gabriel war ein Anhänger der sogenannten Konfliktverteidigung, denn er bombardierte die Richter in der Verhandlung mit allen möglichen und unmöglichen Beweis- und Befangenheitsanträgen. ›Kammergymnastik‹ nannte er das dann lächelnd, weil er das Gericht dadurch zwang, sich jedes Mal zu erheben und im Nebenzimmer über seinen Antrag zu beraten. Jetzt wunderte Gabriel sich darüber, dass er schon seit einer Ewigkeit keine Pflichtverteidigungen mehr übernehmen durfte. Denn darüber bestimmten allein die Vorsitzenden, und die würden einen Teufel tun, mit einem Querulanten, denn als nichts anderes betrachteten sie Gabriel, zusammenzuarbeiten.
    So etwas würde Marc nie passieren. Er war zwar nicht gerade stolz auf sein eher unterwürfiges Verhalten dem Gericht gegenüber, aber von irgendetwas musste der Mensch ja leben, zumal Marc jetzt auch eine Familie zu ernähren hatte. Deshalb hatte er auch nur äußerst zaghaft protestiert, als der Vorsitzende ihm mitgeteilt hatte, wann der Termin stattfinden sollte.
    Marc hatte etwas von einer Terminverlegung zur Vorbereitung der Hauptverhandlung gemurmelt, aber das war von dem Richter kurzerhand vom Tisch gewischt worden. Einsicht in die ohnehin dünne Akte könne er direkt vor der Verhandlung nehmen, die Sache sei glasklar und sein Mandant werde ohnehin nicht mit ihm reden. Genau deshalb habe der vorherige Anwalt die Aufhebung der Pflichtverteidigung beantragt.
    Marc war bei seiner Entscheidung geblieben. Wenn er den Fall nicht übernahm, würde sich ein anderer Rechtsanwalt finden.
    Und tatsächlich hatten sich die Worte des Richters am nächsten Tag als hundertprozentig zutreffend erwiesen. Die Akte umfasste nur wenige Seiten, sein Mandant weigerte
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