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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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sterben. Sie hat kaum noch Kraft. Ihre Brust zieht sich zusammen, sie kriegt keine Luft mehr, und noch immer keine Haltestelle, nur das kalte, metallische Rattern der Räder. Und da – die Hand des Sicherheitsmannes, die nach der Pistole tastet und sie aufhebt und zitternd auf das richtet, was von dem Mann in dem Ledermantel übrig ist. Bloß dass sie es nicht schafft, abzudrücken, sondern zurückfällt und schwer auf den Boden kracht. Der Zeigefinger krümmt sich um den Abzug.
    In diesem Moment schlägt eine winzige Flamme aus der Mündung seiner Waffe. Das Peitschen des Schusses ist noch nicht verklungen, als eine blendende Explosion den Mann mit dem Sprengstoffgürtel in Stücke reißt, und alles fliegt durch die Luft, brennende Kleiderfetzen, Leder, Metall, Knochen, Glassplitter, Haut. Winzige Objekte schießen heran aus dem Rauch, eins blitzt kurz auf, zerreißt den Schleier vor Shirins Augen und explodiert in ihrem Kopf.
    Ein Schlag gegen die Brust wirft sie von Knien und Händen, schleudert sie gegen die nächste Bank. Benommen kauert sie halb auf der Seite und ringt nach Luft, beide Beine mit den Skates von sich gestreckt wie die weiße Ratte. Dann, gerade als der Zug in die nächste Station einfährt und die Räder aufhören zu rattern, rutscht langsam der Ellbogen unter ihr weg. Sie fällt, und ihr Kopf prallt auf den Boden, und das Geräusch – das Letzte, was Shirin hört –, ist wie ein schwerer Schlag auf einen dunklen Gong.

3
    Am schlimmsten war das Klingeln der Handys. Erst war es nur eins, dann setzte ein zweites ein, gleich darauf ein drittes und viertes, und danach wurden es immer mehr. Sie klingelten in den Jacken, den Rucksäcken, den Aktenkoffern und Handtaschen, als riefen all die Toten sich gegenseitig an, und keiner konnte die Anrufe mehr entgegennehmen. Die leblosen Körper lagen nebeneinander auf dem Bahnsteig, mit dem Gesicht nach oben. Ein paar waren zugedeckt, aber die meisten hatten bloß die Augen geschlossen wie Schlafende, und manche hatten gar kein Gesicht mehr. Die Einsatzkräfte hatten sie zwischen den weiß gekachelten Säulen mit den Köpfen zu den Gleisen ausgerichtet, auf denen noch immer der Zug stand. Die Wagen waren hell erleuchtet, die Türen standen offen.
    Nur ein Waggon lag im Dunkeln, aber durch die leeren Fenster konnte man das Blut auf dem Boden und den verkohlten Sitzen sehen. Glassplitter der aus den Rahmen gesprengten Scheiben glommen im Licht der Milchglaslampen an der Gewölbedecke. Es roch nach verschmortem Plastik, versengten Haaren, verbrannter Haut. Feuerwehrleute mit Atemmasken liefen neben dem Zug auf und ab. Bundespolizisten mit Schutzwesten und Maschinenpistolen sperrten die Zugänge der Bahnsteige.
    Ärzte, Sanitäter und Rettungsassistenten beugten sich über die Verletzten, knieten neben den Körpern. Einige Opfer lagen in einer Blutlache. Ein paar schrien – laut, dann leise, dann wieder laut. Einige stöhnten und wimmerten. Andere zitterten krampfartig oder warfen sich hin und her. Von den meisten sah man nur die Füße oder den Kopf oder eine Hand zwischen den knienden Helfern, den Notfallkoffern und Beatmungsgeräten. Die Ärzte, Sanitäter und Rettungs assistenten versorgten die Wunden, stoppten die Blutung, stabilisier ten den Kreislauf. Sie sedierten, reanimierten, betäubten, und manchmal stand einer auf und schüttelte den Kopf oder zog sich erschöpft die blutverschmierten Handschuhe aus. Es gab weniger Blut zu sehen als erwartet, Blut an der Kleidung der Helfer, Blut aus den Wunden der Opfer.
    Ein Mann in einem hellen Overall ging von einem Toten zum nächsten und fotografierte jeden aus mehreren Perspektiven. Nach und nach hörten die Handys wieder auf zu klingeln. Das Grauen hatte viele Gesichter, und Ella Bach hatte immer gedacht, dass sie jedes einzelne bereits kannte. Sie lief zum Leitenden Notarzt und fragte: »Kann ich noch irgendwas tun?«
    »Das Mädchen da neben der Bank – Shirin, neun Jahre, aber wahrscheinlich wird sie’s nicht schaffen.«
    »Woher wisst ihr, wie sie heißt?«
    »Sie hatte einen Organspenderausweis dabei. Selbstgemalt.«
    Sie ist neun und hat sich selbst einen Organspenderausweis gemalt?, dachte Ella. Sie lief zu der Bank und beugte sich über die Trage, auf der Shirin lag. Finn, ihr Rettungsassistent, blieb hinter ihr. Das Mädchen war zart, der Körper klein unter der grünen Decke. Der Kopf der Kleinen war bandagiert, das Gesicht dunkler als der Rest der Haut. Über der linken Wange hatte sich der
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