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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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diesem Zustand transportieren, besteht da nicht die Gefahr, dass das Objekt in ihrem Kopf zu wandern beginnt?«
    »Und?«, fragte Ella.
    »Wenn das Objekt hinter dem rechten Augen steckt, sitzt es wahrscheinlich dicht am Hirnstamm«, sagte der Arzt. »Die kleinste Bewegung in diesem Bereich kann vitale Gehirnfunktionen für immer vernichten und …«
    »Wie heißen Sie?«, unterbrach Ella ihn.
    »Wilhelm.«
    »Ist das Ihr erster Einsatz, Doktor Wilhelm? Wenn wir sie nicht in die Notaufnahme schaffen, stirbt sie gleich hier auf dem Bahnsteig, und zwar an Herzversagen. Sie muss ein schwaches Herz haben oder irgendetwas anderes, sonst wäre sie nicht so instabil.« Und sie hätte sich wahrscheinlich nicht den Ausweis gemalt, dachte sie. »Bringt sie weg!«
    Die Sanitäter hoben die Trage an. Im selben Moment beschleunigte sich das Piepen des Monitors. Shirins Herz pumpte auf einmal viel zu schnell, es raste, statt hundertmal in der Minute schlug es jetzt zweihundertmal. Die Herzstromkurve zuckte über den kleinen Schirm wie ein endloser grüner Blitz.
    »Kammertachykardie, sofort absetzen!«, rief Ella. »Schnell, legt sie wieder hin!« Eine Ewigkeit lang schien Shirins Herz weiterzurasen und sämtliche verbliebene Kraft darauf zu verwenden, sich selbst zu zerstören. Auch Wilhelm, die Rettungsassistenten und die Sanis vergaßen zu atmen, lauschten dem piependen Gerät. Dann – von einer Sekunde auf die nächste – herrschte Stille. Der eine Herzschlag verklang, der nächste blieb aus. Die Pause – Es muss eine Pause sein! – dehnte sich so lang, dass Ella plötzlich spürte, wie hart der Boden unter ihren Knien war.
    Die Zeit blieb stehen. Die Funken sprühten weiter, von den Gleisen stieg Rauch auf, und auch die Beine mit den Stiefeln liefen weiter hin und her, aber Ella und der Arzt und die Sanis hielten für endlose Sekunden in ihrem Leben inne, atmeten weder ein noch aus, genau wie Shirin.
    »Sie ist weg!«, rief der Rettungsassistent. »Adrenalin?«
    »Nein!« Ella überlegte fieberhaft. Sie riss die Decke vom Körper des Mädchens und stützte sich auf Shirins Brustkorb, drückte ihn, ei n mal, zweimal, erst vorsichtig, denn die Rippen waren dünn, alles war so winzig, dann schneller und heftiger, in dem Rhythmus, den das stehende Herz jetzt wiederfinden musste – stayin’ alive –, drücken und drücken und drücken – stayin’ alive, stayin’ alive –, der beste Rhythmus, nicht nur zum Tanzen, auch zum Reanimieren – stayin’ alive –, ohne Innehalten – stayin’ alive, stayin’ alive –, aber nichts geschah, das kleine Herz sprang nicht wieder an, und sie pumpte weiter – ah, ah, ah, ah, stayin’ alive –, und als sie aufblickte, sah sie den fassungslosen Ausdruck auf dem blassen Gesicht des Rettungsassis tenten, denn sie hatte laut mitgesummt, und noch immer geschah nichts, sodass sie mit dem Pumpen aufhörte und auch mit dem Summen.
    Es muss noch eine andere Verletzung geben, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Eine, die wir bisher übersehen haben. Warum hat sie sich einen Organspenderausweis gemalt? Woran leidet sie? Herz? Niere? Die Brust des Mädchens federte wie eine aufgepumpte Luftmatratze, als staute sich der Sauerstoff in der unnatürlich geweiteten Brusthöhle. Ein Spannungspneumothorax, dachte Ella, die Lungen müssen verletzt sein. Und dann dachte sie: Das Gehirn – nicht mehr lang und wir haben einen irreparablen Hirnschaden!
    Sie schob Shirins blutbespritztes T-Shirt bis zum Hals hoch und legte die flache Brust frei. Schweiß rann ihr kitzelnd den Nacken hinunter. Auch in ihren Wimpern glitzerten Schweißtropfen. Sie wischte sich mit dem rechten Unterarm über Stirn und Augen. Was ist los? Was ist verdammt nochmal mit dir los, Shirin? Sie starrte das blau angelaufene Gesicht des Mädchens an, die Verfärbung lief bis zum Halsansatz hinunter.
    Ella drehte den kleinen Körper auf die Seite, und da war es, ein Loch unter der linken Brustwarze, zwischen der dritten und vierten Rippe. Es war nur ein kleines Loch, das sich schon wieder geschlossen hatte, kaum Blut, leicht zu übersehen. Aber was, wenn es die Öffnung eines Wundkanals ist, der bis in die Lunge reicht? Wenn hier auch ein Objekt eingedrungen ist?
    »Taschenlampe!«, rief sie. »Ich brauche eine starke Lampe!«
    Einer der Feuerwehrleute reichte ihr seine Stablampe. Sie knipste sie an und presste sie schräg hinter der linken Achselhöhle gegen Shirins Oberkörper, sodass der Lichtstrahl durch die Haut und das
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