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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Verband rot gefärbt, aber nicht sehr stark. Aus Shirins Mund führte ein Trachealtubus zu einem Beatmungsgerät. Durch einen weiteren Schlauch floss farblose Infusionslösung in einen dünnen Arm, der unter der Decke hervorragte. Ein tragbarer Überwachungsmonitor gab in kurzen Intervallen leise Pieptöne von sich.
    Der junge Notarzt, der sie erstversorgt hatte, kauerte neben Shirins Schulter. »Sie hat eine Verletzung unter dem linken Auge«, erklärte er. »Es gibt einen Wundkanal, aber wie tief er ist … Etwas könnte die Wange durchschlagen haben. Vielleicht ist eine Scherbe oder ein Stück Eisen in ihren Schädel eingedrungen. Wenn, dann steckt es wahrscheinlich hinter dem rechten Auge, etwa in Höhe der Nasenwurzel.«
    »Warten wir auf das CT«, sagte Ella.
    Der Notruf war um 18:47 Uhr in der Leitzentrale der Feuerwehr eingegangen und gleich weitergeleitet worden: »Massenanfall von Ver letzten Stufe eins nach einer Explosion in der U7 Richtung Rudow. NEF 4305, wo seid ihr gerade?«
    »Mehringdamm«, hatte Ella geantwortet. »Wo ist die Patientenablage?«
    »U-Bahnhof Hermannplatz.«
    »Wie viele Betroffene?«
    »Neunzehn Verletzte, fünf Tote. Bis jetzt.«
    Es war wie der Startschuss zu einer Rallye gewesen, den Mehringdamm hoch, über die Gneisenaustraße und die Hasenheide runter zum Hermannplatz, ein Katzensprung, nicht besonders viel Verkehr an diesem frühen Herbstabend, gerade mal acht Minuten, und trotzdem waren sie nicht als Erste eingetroffen. Sie war gern die Erste. Meistens schaffte sie das: ein paar Sekunden schneller zu sein als der Tod.
    Auf dem Platz und den Straßen rings um die U-Bahn-Schächte schleuderten schon ein Dutzend Streifenwagen, Feuerwehrfahrzeuge und RTW-Sprinter ihre blauen Blitze gegen die Fassaden von Karstadt und Commerzbank. Dazu die Trauben von Schaulustigen an den Aufgängen, die ersten TV-Journalisten – Wo die immer so schnell herkommen? –, trotzdem so nah ran wie möglich mit dem Einsatzwagen und raus, und da spürte Ella schon den schwachen Rauchgeruch von den Bahnsteigen, und die Treppe runter mit Notfallkoffer und Defi, und jetzt gehörte Shirin ihr, als hätte sie auf sie gewartet. Als wären sie verabredet gewesen, dachte Ella.
    »Blutverlust?«, fragte sie, zwei Finger am Hals des Mädchens.
    »Die Kopfwunde hat stark geblutet«, sagte der junge Arzt, der vor ihr dagewesen war. »Wir haben ihr schon zwei Ringer gegeben.«
    »Warum ist ihr Gesicht so dunkel?«
    »Wahrscheinlich ist sie Türkin oder …«
    »Ich meine dunkler als der übrige Körper«, fiel Ella dem Arzt ins Wort. Sie schob das linke Augenlid des Mädchens hoch. Nur schemenhaft nahm sie die Feuerwehrleute und Polizisten wahr, die über und neben ihr auf dem abgesperrten Bahnsteig erschienen und wieder verschwanden; von den meisten sah sie nur die Stiefel. Die Zugluft aus den schwarzen Gleisröhren verfing sich in den Decken, unter de nen die Toten lagen. Von oben drang das Heulen der Sirenen herun ter, es wurden immer mehr. Ella hörte schnarrende Walkie-Talkies, das Rauschen, Knacken und Zischen des Funkverkehrs. Eine Metallsäge kreischte, weiße Funken stoben in kleinen Fontänen aus dem dunklen Waggon, und magnesiumblauer Lichtschein flackerte über die hellen Kachelwände.
    Shirins Pupille war mittelweit geöffnet und reagierte nicht. Jetzt verfärbte sich ihr Gesicht bläulich. »Blutdruck?«, fragte Ella.
    Der Rettungsassistent warf einen Blick auf den Monitor. »Schockig. Tachykard mit hundertdreißig pro Minute.«
    Der Blutdruck war viel zu niedrig, die Herzfrequenz viel zu hoch, und dazu noch die Blaufärbung. Was bedeutet das, wieso ist der Kreislauf kollabiert? »Wie sieht’s unter den Verbänden aus?«, wollte Ella wissen. »Spuren von grauer Masse?«
    Der junge Arzt, den Ella nicht kannte, schüttelte den Kopf. »Nein. Liquorfluss Nase links. Schwache Blutung Mund, Nase rechts und links.«
    Irgendwas stimmt mit der Sauerstoffversorgung nicht, dachte Ella, öffnete ihren Koffer und zog die sterilen Handschuhe an. »Ist das die einzige Verletzung?«
    Das Piepen des tragbaren Herzmonitors wurde schneller. »Druck neunzig zu fünfzig«, sagte der Rettungsassistent, »das sieht nicht gut aus – Sättigung achtundachtzig Prozent, CO 2 fällt!«
    Ella sagte: »Volumen geben, tief sedieren, mit hundert Prozent Sauerstoff beatmen, und dann ab mit ihr in die Charité!«
    »Sollen wir sie nicht erst stabilisieren?« Der junge Arzt sah in die Runde, als erwarte er Beifall. »Wenn wir sie in
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