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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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Eines Tages war es immer noch Dezember. Besonders in Leeds, wo schon so lange Winter herrscht, dass niemand alt genug ist, um sich noch daran zu erinnern, was vorher war. Es schneite die ganze Zeit, bis auf dieses kurze Intermezzo des Herbstes, der im August ein paar Blätter von den Bäumen gefegt hatte und dann sang- und klanglos von der Bühne abgegangen war wie die Vorgruppe einer berühmten Band.
    In Leeds ist alles, was kein Winter ist, nur eine Vorgruppe, die sich zwei Minuten die Seele aus dem Leib spielt und dann verschwindet. Gleich darauf kommen die Schneestürme wie der Applaus aus dem Publikum, sie fahren auf die Erde herab und verschwören sich gegen die tollkühne Poesie der kleinen Fuchsiaknospen, die bereits im Park aufblühen. Und jetzt Applaus. Zugabe.
    In Leeds denkt jeder Winter nur an sich, weil er unbedingt kälter sein will als der vorherige und dabei so tut, als wäre er der letzte Winter von allen. Mit den gequetschten Vokalen der Nordengländer, bloß noch härter, entfesselt er einen tödlichen Wind. Aber mit mir reden die beiden sowieso nicht.
    Trotzdem ist es nicht Frau Holle, die die Leute hier fürchten, sondern die Hölle. Ich hätte gegen einen Tausch nichts einzuwenden und würde das O der kalten Flockenfrau gerne gegen ein höllisches Ö eintauschen, wäre das Leben eine Vokabelübung wie in meinem Chinesischunterricht.
    Die wenigen Male, die ich das Haus verließ, legte sich ein eisiger Maulkorb um meinen Kiefer, sodass ich keinen Ton mehr herausbrachte, und der Wind drehte mir den Schirm um, riss ihn mir aus den Händen, zerrte ihn ein paar Meter weiter und ließ ihn dann krumm und schief an der Gehsteigkante liegen, die zerbrochenen Speichen in die Luft gereckt wie Hinkebeine. Trotzdem gingen die Engländer immer noch in kurzen Hosen und Jeansjacken durch die Gegend, die Füße ebenso entblößt wie ihr Zahnfleisch, mit dem gleichen breiten Grinsen, das sie auch im August gezeigt hatten, und den gleichen langen Schritten, der gleichen lässigen Art zu plaudern, wobei sie die Silben im Mund langzogen und sie schließlich in aller Ruhe nach draußen in die eisige Luft entließen und in Atemdunst verwandelten. Ihnen gingen die Schirme offenbar nie kaputt.
    An jenem Dezembertag kehrte ich nach einer ausgiebigen Shoppingtour auf der Briggate zurück und schmiss meine funkelnagelneue, knallrosa Jacke in einen Müllcontainer an der Christopher Road.
    Dort wohne ich, in einer der Straßen, bei denen man Besuchern immer genau erklären muss, wo sie sind, obwohl man sich selber ständig verläuft, weil die Straße genauso aussieht wie die vorher und die nachher, und wenn du sie schließlich gefunden hast, ist sie dermaßen potthässlich, dass du am liebsten gleich weitergehen würdest. Jedenfalls ist es eine so hässliche Straße, dass man sie als Beweis dafür ansehen könnte, dass es Gott doch nicht gibt. Das fängt bei den spillerigen Häuschen aus rotem Backstein an, eins wie das andere, geht bei den Türen aus schwarzem Metall weiter, die aussehen wie Zellentüren in der Isolationshaft, den Müllsäcken, die neben die Tonnen geschmissen werden, und endet mit dem herrlichen Panoramablick auf die Imbissbuden der Woodhouse Street, die direkt auf die Christopher Road stößt, obwohl sich das wahrlich keine Straße wünschen würde.
    Rechter Hand kann man Toms Fischbude bewundern, wo es Fish & Chips zu nur drei Pfund gibt, und sich am Anblick mehrerer neonbeleuchteter Döner-Stände weiden, während linker Hand die Pizza für ein Pfund bei Nino und weiter unten die Hühnchen mit Bambus und die frittierten Algen des Chinesen locken, der die ganze Nacht offen hat.
    Und dann dieses Dunkel, wie beim Vorspann eines Filmes, wenn man darauf wartet, dass der Streifen endlich losgeht. Aber an der Christopher Road geht gar nichts los. Wenn überhaupt, hört etwas auf. Alles hört auf, auch die Sachen, die nie angefangen haben, so wie manche Lebensmittel schon das Verfallsdatum überschritten haben, bevor man sie überhaupt aufmacht, oder wie Pflanzen verrecken, bevor sie aus der Erde kommen, weil ihnen die Sonne fehlt, oder wie Embryos die schlechte Angewohnheit haben, sich mit der Nabelschnur zu erdrosseln.
    Ursprünglich war das hier mal eine Arbeitersiedlung, hier in der Mitte stand die Fabrik, dort die Häuser der Arbeiter und eine Kirche. Beim Bauen hat man an allem gespart, sowohl am Material als auch an Schönheit, und weil die Grundstücke teuer waren, hat man eben einfach in die Höhe
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