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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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übrige Gewebe in den Brustkorb des Mädchens drang. Unterhalb des Herzens leuchtete die Vorderseite der Brust stark rötlich, unnatürlich stark. Das ist es, dachte Ella, das tötet Shirin gerade. Ein Metallstück vielleicht, irgendetwas, das die Lungen verletzt hat. Sie hörte den Respirator pumpen, und sie hörte sich selbst atmen und sogar den Atem der anderen, und sie dachte: Bitte, Shirin mit dem gemalten Organspenderausweis, ich will dein Herz nicht, ich will es niemand anderem geben, auch sonst keins deiner kleinen Organe. Ich will, dass du lebst.
    »Ein Milligramm Adrenalin!«
    Sie wartete die Wirkung der Spritze nicht ab, sondern setzte dem Mädchen die Hände auf die Brust, und es war, als schösse das Adrenalin durch ihren eigenen Körper. Sie fing wieder an, Shirins Herz zu massieren – stayin’ alive, stayin’ alive –, und jetzt rann der Schweiß ihr in die Augen und die Schläfen hinunter. Sie wischte sich wieder mit dem Unterarm über das Gesicht, und sie drückte und drückte – Komm schon, verdammt, du schaffst es! – rauf und runter, ohne an irgendetwas anderes zu denken als das Lied der Bee Gees – stayin’ alive, stayin’ alive –, aber das Mädchen war noch immer zyanotisch, die Blaufärbung des Gesichts blieb unverändert. »Übernehmen Sie!«, sagte sie zu Doktor Wilhelm.
    »Was haben Sie vor?«, fragte Wilhelm, aber als Ella ihre Hände von Shirins Brustkorb nahm, sprang er sofort ein, setzte die Herzmassage fort.
    Sie griff in den Notfallkoffer und suchte in fliegender Hast eine Stahlkanüle und ein Skalpell. Durch das von dem unbekannten Ob jekt verursachte Loch strömte die Luft von der Beatmungspumpe direkt in den Brustkorb und presste die Lunge so stark zusammen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte – sogar das Herz wurde fast zerdrückt. Die Luft muss raus, bevor es zu spät ist! »Beatmung abstellen!«
    »Willst du das wirklich?«, fragte Finn. Sein blasses, schmales Gesicht mit den lebhaften blauen Augen war eine Studie in Besorgnis. Die glatte Stirn warf bedenkliche Falten, der dünne blonde Ziegenbart unter dem Kinn zitterte.
    Sie fand die Kanüle – Gut, jetzt noch das Skalpell –, und da erklang wieder das Signal eines einzelnen Handys. Aber diesmal gehörte es keinem der Opfer, sondern einem der Helfer, die damit beschäftigt waren, die Toten und Verletzten nach Ausweispapieren oder anderen Hinweisen auf ihre Identität zu durchsuchen. Der Sanitäter, dessen Handy klingelte, ging von Leiche zu Leiche und beugte sich über sie, als hielte er Ausschau nach jemandem, den er kannte. Oder, dachte Ella, als wollte er ganz sicher sein, dass sie wirklich tot waren.
    Bei dem letzten Körper in der Reihe klingelte sein Handy immer noch, jetzt so laut, dass er es mit einer Hand aus der grau-roten Jacke zog, während er die andere unter die Decke schob, die über Kopf und Oberkörper des Toten gebreitet war. Er schien nach etwas zu suchen, von dem er schon wusste, dass es da sein musste. Rasch schaltete er sein Handy aus und verstaute es wieder in der Jackentasche. Er wandte sich um. Seine Augen begegneten Ellas Blick. Obwohl er ein gutes Stück von ihr entfernt war, konnte sie den jähen Schrecken in seinem Gesicht sehen; die Panik des Ertappten.
    Das Zischen des Respirators hörte abrupt auf. »Beatmung abgestellt«, sagte Finn.
    »Herzmassage unterbrechen«, befahl Ella.
    »Sind Sie wahnsinnig?«, fragte Dr. Wilhelm, gehorchte aber auch diesmal. »Was soll das denn werden?«
    Ella antwortete nicht. Sie entfernte die Verpackung des stählernen Einmalskalpells, tastete nach einer weichen Stelle zwischen der zweiten und dritten Rippe unter der Mitte des Schlüsselbeins und durchstach Shirins Haut. Sie schnitt nicht, sie stach, und das Blut, das aus der Wunde quoll, stoppte sie sofort mit dem Zeigefinger, den sie in die Stichwunde steckte. Sie nahm einen dicken Drainageschlauch, zog den Zeigefinger heraus und schob den Schlauch durch das Wundloch. Es gab ein lautes Zischen; fast sofort entspannte sich der Brustkorb. Gleich darauf – da! – ein Piepton aus dem Monitor, ein grüner Punkt, keine flache Linie mehr, keine flache Linie mehr.
    Ella hörte förmlich, wie den beiden Männer der Atem stockte, spürte, wie sie erstarrten, ungläubig, überrascht, erleichtert. »Ach, du heilige Scheiße«, murmelte Wilhelm.
    »Sie kommt zurück«, rief Finn aufgeregt.
    Die Stromkurve auf dem Monitor belebte sich, die Pieptöne folgten wieder schneller, erst zögernd, dann regelmäßig,
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