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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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1933
10. März, Freitag abends
    30. Januar: Hitler Kanzler. Was ich bis zum Wahlsonntag, 5. 3., Terror nannte, war mildes Prélude. Jetzt wiederholt sich haargenau, nur mit anderem Vorzeichen, mit Hakenkreuz, die Sache von 1918. Wieder ist es erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht. Wo ist Bayern, wo ist das Reichsbanner usw. usw.? Acht Tage vor der Wahl die plumpe Sache des Reichstagsbrandes – ich kann mir nicht denken, daß irgend jemand wirklich an kommunistische Täter glaubt statt an bezahlte -Arbeit. Dann die wilden Verbote und Gewaltsamkeiten. Und dazu durch Straße, Radio etc. die grenzenlose Propaganda. Am Sonnabend, 4., hörte ich ein Stück der Hitlerrede aus Königsberg. Eine Hotelfront am Bahnhof, erleuchtet, Fackelzug davor, Fackelträger und Hakenkreuz-Fahnenträger auf den Balkons und Lautsprecher. Ich verstand nur einzelne Worte. Aber der Ton! Das salbungsvolle Gebrüll, wirklich Gebrüll, eines Geistlichen. – Am Sonntag wählte ich den Demokraten, Eva Zentrum. Abends gegen neun mit Blumenfelds bei Dembers. Ich hatte zum Scherz, weil ich auf Bayern hoffte, mein bayrisches Verdienstkreuz angesteckt. Dann der ungeheure Wahlsieg der Nationalsozialisten. Die Verdoppelung in Bayern. Dazwischen das Horst-Wessel-Lied. – Eine entrüstete Zurückweisung, loyalen Juden werde nichts Übles geschehen. Gleich darauf Verbot des Zentralvereins jüdischer Bürger in Thüringen, weil er die Regierung »talmudistisch« kritisiert und herabgesetzt habe. Seitdem Tag um Tag Kommissare, zertretene Regierungen, gehißte -Fahnen, besetzte Häuser, erschossene Leute, Verbote (heute zum erstenmal auch das ganz zahme »BerlinerTageblatt«) etc. etc. Gestern »im Auftrag der NS-Partei« – nicht einmal mehr dem Namen nach im Regierungsauftrag – der Dramaturg Karl Wollf entlassen, heute das ganze sächsische Ministerium usw. usw. Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden. Dieser völlige Zusammenbruch einer eben noch vorhandenen Macht, nein, ihr gänzliches Fortsein (genau wie 1918) ist mir so erschütternd. Que sais-je? – Am Montagabend bei Frau Schaps zusammen mit Gerstles. Niemand wagt mehr, etwas zu sagen, alles ist in Angst. Nur ganz unter uns sagte Gerstle: »Der Brandstifter im Reichstag war nur mit Hose und kommunistischem Parteibuch bekleidet und hat nachweislich bei einem NS-Mann gewohnt.« Gerstle humpelte auf Krücken; er hat sich beim Skilaufen in den Alpen ein Bein gebrochen. Seine Frau steuerte ihr Auto, in dem wir ein Stück zurückfuhren.
    Wie lange werde ich noch im Amt sein?
17. März, Freitag früh
    Die Niederlage 1918 hat mich nicht so tief deprimiert wie der jetzige Zustand. Es ist erschütternd, wie Tag für Tag nackte Gewalttat, Rechtsbruch, schrecklichste Heuchelei, barbarische Gesinnung ganz unverhüllt als Dekret hervortritt. Die sozialistischen Blätter sind dauernd verboten. Die »liberalen« zittern. Neulich war das »Berliner Tageblatt« zwei Tage verboten; den »Dresdener NN« kann das nicht geschehen, es ist gänzlich regierungsfromm, bringt Verse auf »die alte Fahne« etc.
    Einzelberichte: »Auf Anordnung des Reichskanzlers sind die fünf im Sommer vom Sondergericht in Beuthen wegen Tötung eines kommunistischen polnischen Insurgenten Verurteilten freigelassen worden.« (Die zum Tode verurteilten!) – Der sächsische Kommissar für Justiz ordnet an, daß das zersetzende Gift der marxistischen und pazifistischen Schriften aus den Gefängnisbibliotheken zu entfernen sei, daß der Strafvollzug wieder strafend, bessernd und vergeltend wirken müsse, daß die langfristigen Druckformular-Verträge mit der Firma Kaden, die auchdie »Volkszeitung« gedruckt habe, hinfällig seien. Usw. usw. – Unter französischer Negerbesatzung würden wir eher in einem Rechtsstaat leben als unter dieser Regierung. Es gibt eine Novelle von Ricarda Huch: Da ist ein frommer Mann hinter einem Sünder her und wartet, daß Gott ihn strafe. Er wartet vergeblich. Manchmal fürchte ich, daß es mir gehen wird wie diesem frommen Mann. Es ist wahrhaftig keine Phrase: Ich kann das Gefühl des Ekels und der Scham nicht mehr loswerden. Und niemand rührt sich; alles zittert, verkriecht sich.
    Thieme erzählte mit freudiger Anerkennung von einer »Strafexpedition« der SA-Leute im Sachsenwerk gegen »zu freche Kommunisten in Okrilla«: Rizinus und Spießrutenlaufen durch Gummiknüttel. Wenn Italiener so etwas tun – na ja, Analphabeten, südliche Kinder und
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