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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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unter dem tiefblauen Himmel Richtung Hallesches Tor.
    Ein Tablettenfläschchen kippte von der Ablage neben dem Medikamentenschubladen und rollte auf dem Boden hin und her. Der Sanitäter folgte dem hin und her rollenden Fläschchen angestrengt mit den Augen, als wäre es ein faszinierender Gedanke tief in seinem Inneren, der sich ihm immer wieder entzog.
    »Was haben Sie genommen?«, fragte Ella. » Wann haben Sie es genommen? Wissen Sie, wo Sie sind?«
    Mühsam hob er den Blick wieder, schien aber einen Moment zu brauchen, bis er die Situation, in der er sich befand, rekonstruiert hatte.
    »Ich kann Ihnen vielleicht helfen, wenn Sie mir sagen, was Sie wollen«, drängte Ella.
    Plötzlich veränderte sich das Piepen des Monitors, wurde schneller. Shirins schmächtiger Körper bäumte sich auf, stemmte sich gegen die Riemen, mit denen sie auf der Trage festgeschnallt war, als würde sie von einem inneren Krampf geschüttelt. Die Augäpfel flogen unter den geschlossenen Lidern hin und her.
    Rasch beugte Ella sich über das Mädchen. Sie kontrollierte den Sitz der Schläuche und Kabel, das Beatmungsgerät, die Infusion und den Anschluss des Monitors. Nur aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Sanitäter sich vorneigte. Seine rechte Hand fuhr in die Jackentasche, kam wieder heraus, etwas blitzte darin, und als Ella aufblickte, sah sie, dass er ein Einmalskalpell mit Stahlklinge hervorgeholt hatte.
    »Leg das Skalpell weg, du Arsch!«, rief Ella, während Shirins Herz weiter raste und das Piepen des Monitors alle anderen Laute übertönte. Aber der Sanitäter kümmerte sich gar nicht um sie, auch nicht um das Mädchen. Sein Mund stand halb offen, dann riss er ihn ganz auf wie zu einem stummen Schrei – sein Zahnfleisch glänzte rosig und glatt – und setzte sich die Klinge an die Kehle.
    Ella warf sich nach vorn, gegen seinen Stuhl. »Tu das nicht!«, rief sie und packte seinen Arm. »Das willst du doch gar nicht – das ist der Stoff – das Zeug, das du in dir hast!« Durch den Stoß drang die Klinge in seinen Hals, aber nicht tief. Etwas Blut quoll hervor, die Schlagader war unverletzt. Ella hielt seinen Arm fest, mit beiden Händen, an Ellbogen und Handgelenk. Ihr Gesicht befand sich nur Zentimeter von seinem entfernt, so nah, dass sie seinen Angstschweiß riechen konnte. »Lass schon los, du beknackter Idiot!«
    Verblüfft gab er nach, alle Kraft wich aus seinem Arm, nur die Panik blieb in seinen Augen. Ein Laut, halb Zischen, halb Stöhnen, entfuhr ihm. Ella entwand ihm das Skalpell und warf es unter Shirins Trage. Fast in derselben Sekunde normalisierte sich der Zustand des Mädchens. Es fiel zurück, die Krämpfe schienen abzuebben, und das Herz hörte auf zu rasen.
    Was war das?, dachte Ella. Was ist hier gerade passiert?
    Ein weiterer Ruck schleuderte sie zurück auf ihren Stuhl. Der Sprinter drosselte das Tempo und hielt mit einem scharfen Schwenk am Bordstein. Finn starrte durch das Fenster in der Trennwand. Dann war sein Gesicht verschwunden, und Ella sah wieder zu dem Sanitäter hinüber. Er hielt ein Handy hoch, hielt es in beiden Händen, fast wie eine Monstranz, und fotografierte sie mehrmals schnell hintereinander.
    Finn riss die rückwärtige Tür auf. »Was geht denn hier für eine Scheiße ab?« Der Sanitäter sprang ihm entgegen, rammte ihn mit der Schulter und schlug ihm damit die Tür aus der Hand. Wie von Furien gehetzt, stürzte er auf die Straße und rannte zwischen den heranrollen den Wagen davon – erst noch eine schwankende, Haken schlagende grau-rote Silhouette vor den Scheinwerfern, im nächsten Moment ein Schatten, der mit der Nacht verschmolz.

5
    Fünfzehn Minuten später fuhr der Sprinter am Nordhafen vorbei, bog in die Fred-Krause-Straße und dann auf die Brücke über den Spandauer Kanal. Von der Seestraße lenkte Finn den Wagen auf das schwach beleuchtete Gelände der Virchow-Klinik. Er schaltete Sirene und Blaulicht aus, drosselte das Tempo und rollte langsam die Zufahrt zum Tiefgeschoss der Unfallchirurgie 3 hinunter.
    Ella löste die Arretierung der Trage, des Monitors und der Sauerstoffflasche. Als der Daimler unter dem Dach vor der Rettungsstelle hielt, sprang Finn hinter dem Steuer hervor und riss die hintere Tür auf. Zusammen mit Ella hob er Trage und Apparate aus dem Wagen und rollte sie in den Vorraum, wo ihnen ein Pfleger im grünen Overall entgegeneilte. »Die Patientin muss sofort in den Schockraum«, sagte Ella. »Ist Dr. Auster schon da?«
    »Er hat gleich nach Ihrem
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