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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie bei uns mitfahren sollen?«, fragte sie. »Die Einsatzleitung?«
    Sie kannte die Symptome. Sie kannte das Zittern der Lippen, den Schweiß auf seiner Stirn und die unnatürlich geweiteten Pupillen. Sie gab sich Mühe, ruhig zu sprechen, so ruhig es eben ging mit der heulenden Sirene auf dem Dach und dem Zischen und Piepen der Apparate, an denen Shirins Leben hing. Sie versuchte, seine Augen festzuhalten.
    »Ich bin Doktor Bach«, sagte sie. »Ella Bach.«
    Ich habe gesehen, wie du dir auf dem Bahnsteig an den Toten zu schaffen gemacht hast. Ich habe gesehen, wie du die Leichen bestohlen hast.
    Der Sanitäter beugte sich ein wenig vor. Er schien innerlich zu vibrieren. Seine Stirn glänzte fahl, und Schweiß bedeckte auch seine Wangen und die Oberlippe. Die Spitzen seiner blonden Haare klebten an der milchigen Haut. Die Augen waren dunkelblau, aber der Glanz der Iris war wie ein undurchdringlicher Schutzschild gegen die Außenwelt.
    Heroin, dachte Ella, vielleicht sogar Crack, etwas, das ihn unberechenbar macht. »Wollen Sie mir etwas sagen?«, fragte sie.
    Jäh riss Finn den Wagen zur Seite. Der Sprinter schlingerte so heftig, dass Ella sich an dem Medikamentenschrank festhalten musste. Die Reifen kreischten, und einige Sekunden lang schleuderte das Fahrzeug im Zickzack hin und her. Durch das Rückfenster konnte Ella den Widerschein des Blaulichts auf den Frontscheiben der Autos hinter ihnen blitzen sehen. Am Straßenrand flogen Trauben junger Touristen mit Bierdosen in den Händen vorbei, und da wusste sie, dass Finn eben den Scherben von zersplitterten Flaschen auf der Fahrbahn ausgewichen war. Weiter hinten gab es noch mehr Rettungsfahrzeuge mit hellen Fenstern und zuckendem Blaulicht auf dem Dach.
    »Wie heißen Sie?«, fragte Ella.
    Der Sanitäter atmete flach, und seine unverwandt auf sie gerichteten Augen schienen größer und größer zu werden, als wollte er sie hypnotisieren. Oder , dachte sie, als würde etwas durch sie nach außen dringen. Etwas Verzweifeltes. Dasselbe brennende Flehen, das ihr schon auf dem Bahnsteig aufgefallen war. Unter der halb geöffneten, grau-roten Jacke bemerkte sie ein Kreuz aus reflektierendem Metall, das er an einem Kettchen um den Hals trug.
    »Alles in Ordnung bei dir, Ella?«, meldete sich Finn über die Sprechverbindung.
    Mit einem Ruck beugte der Sanitäter sich vor und hielt eine Hand über Shirins Gesicht, berührte es nicht einmal, und doch wusste Ella, was er ihr damit sagen wollte, mit seinem glühenden Blick, dem breiten Handteller über Mund und Nase des Kindes.
    »Alles in Ordnung«, antwortete sie rasch und sah zu, wie er die Hand noch einen Moment über Shirins Gesicht schweben ließ, ehe er sie wieder auf seinen Oberschenkel legte. »Ich habe Sie noch nie gesehen«, redete sie weiter. Nur reden, dachte sie, seine Aufmerksamkeit fesseln. »Sind Sie an der Charité oder einer anderen Klinik? Bei der Feuerwehr? Gehören Sie zu den Johannitern? Oder den Maltesern?«
    »Ich bin allein«, stieß der Sanitäter hervor. Obwohl er so blass war, wirkte er, als glühe er in dem weißen Deckenlicht, nicht wie Feuer, sondern wie Phosphor, das sich mit dem Sauerstoff in der Luft ver band. Auf einmal hatte Ella Schwierigkeiten zu atmen. Sie spürte ihren Puls hart an den Handgelenken. Sie schluckte, um die Ohren freizukriegen. Der Raum zwischen ihr und dem Mann schrumpfte, er flimmerte und sirrte vor Spannung. Die Atmosphäre bebte unter einem betäubenden Druck, als könnte gleich alles um sie herum in Flammen aufgehen.
    »Sie waren auf dem Bahnsteig«, sagte sie erschöpft. »Sie haben etwas aus den Taschen der Toten geholt.«
    »Ich bin allein«, sagte der Sanitäter noch einmal, aber vielleicht dachte sie auch nur, dass er es sagte; seine Lippen bewegten sich. Danach bewegten sie sich nicht mehr, denn er presste sie so fest zusammen, dass sie einen schmalen farblosen Strich bildeten.
    In dem Rückfenster neben seiner Schulter glitt ein Spätkauf mit einem Pulk kreischender Jugendlicher davor ins Bild und fiel ins Dunkel zurück. Der Sprinter überholte einen fast leeren Bus. Eine Zeit lang waren sie allein auf dem Mehringdamm, aber an der nächsten Kreuzung tauchten wieder Scheinwerfer hinter ihnen auf.
    Die Reifen kreischten und quietschten noch einmal, als Finn den Sprinter nach rechts riss. Ein hohles Donnern fegte über den Wagen hinweg. Im nächsten Moment ragte im Rückfenster eine Eisenbrücke auf, ein gelber U-Bahn-Zug ratterte
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