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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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bringt ihm bald viel Geld ein, das sagt er immer.
    Jetzt schwebt die Fahrstuhlkabine mit den schmutzigen Glas wänden wieder herab. Am anderen Ende des Bahnsteigs taucht ein Siche rheitsmann der U-Bahn-Wache auf. Er hat eine dunkelblaue Uniform an, und das Leder seines Gürtels, der Stiefel und der Pistolentasche glänzt schwarz. Er trägt eine Sonnenbrille, durch die er bestimmt nicht viel sehen kann, und ein Barett. Sein Gesicht wirkt steif. Der kleine Mund sieht komisch aus, blass und dünn wie eine verheilte Wunde.
    Die Liftkabine sinkt den Glasschacht herunter und hält mit einem sanften Ruck. Vier junge Rucksacktouristen mit kleinen US-Wappen auf den Backpacks verlassen den Fahrstuhl, hinter ihnen zwei Frauen. Die beiden Frauen gehen gleich zu einer Bank und setzen sich hin. Beide haben eine Burka an; die eine ist dick, die andere schlank.
    Aus der Gleisröhre fegt ein Schwall warmer Luft über den Bahnsteig, als der Zug einfährt. Das Rattern der Räder wird so laut, dass es die Musik in den Kopfhörern übertönt, und dann donnert der Triebwagen der U7 aus dem Tunnel. Die meisten der erleuchteten Waggons mit den bunt beklebten Fenstern sind leer. Als der Zug hält, kommt nur eine Handvoll Passagiere heraus. Fast alle, die auf dem Bahnsteig gewartet haben, steigen in denselben Wagen, in dem schon ein Dutzend Leute sitzen, alte Frauen mit Kopftüchern und Schleiern, Männer mit Aktentaschen, zwei Nonnen, ein paar Jugendliche mit Handys, aber keine anderen Kinder.
    Shirin balanciert auf ihren Skates in den Wagen und bleibt neben der Haltestange an der Tür stehen, genau wie der Mann in dem schwarzen Ledermantel am anderen Ende und der Mann mit der Uniform in der Mitte. Der Zug fährt abrupt los und beschleunigt so heftig, dass ihr beinahe die Füße weggerutscht wären. Sie hält sich fest, denn der Wagen schlingert stark. Durch die bunt beklebten Fenster kann sie die Wände der Gleisröhre vorbeiflitzen sehen; sie spürt die Erschütterungen der Räder auf den Schienen unter ihr.
    Der Mann am anderen Ende des Gangs fängt an, langsam seinen Mantel aufzuknöpfen, Knopf für Knopf, von unten nach oben. Er sieht niemanden an, und niemand achtet auf ihn. Sein ganzes Gesicht ist jetzt schweißbedeckt. Sogar seine nackten Füße in den Sandalen glänzen nass. Er schaut auf seine Armbanduhr und schiebt eine Hand unter die erst halb geöffneten Mantelschöße.
    Shirin beobachtet die anderen Passagiere. Einige lesen Zeitung, einer simst; der Rest schaut ins Leere oder aus den Fenstern, obwohl man da nichts sehen kann. Die beiden Nonnen tuscheln miteinander. Der Sicherheitsmann schwankt leicht im Rhythmus der Erschütterungen. Die Mädchen in den Sommerkleidern kichern immer noch. Der Punker setzt die Bierdose an die Lippen. Die Ratte auf seiner Schulter macht Männchen, ihr rosiges Schnäutzchen vibriert.
    Der Zug fährt in die nächste Station ein. Der Mann in dem schwarzen Ledermantel streckt die Hand aus, als wollte er den Knopf zum Aussteigen drücken. Er hat einen verlorenen, sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht, und die Hand zittert. Im letzten Moment scheint er es sich anders zu überlegen. Er zieht die Hand zurück und schiebt sie in die Tasche. Sein Gesichtsausdruck entspannt sich. Jetzt holt er das Handy heraus und richtet es mit dem Display auf die anderen Fahrgäste. Shirin schaut sich um, ob noch jemand außer ihr den Mann komisch findet, aber sie ist wohl die Einzige, und jetzt wird sie von einem Pärchen auf dem Bahnsteig abgelenkt.
    Ein junger Araber in Jeans und Lederjacke löst sich gerade aus den Armen seiner Freundin, blickt ihr noch einmal tief in die Augen und springt dann in den Wagen, gerade als sich die automatischen Türen schließen. Das Mädchen auf dem Bahnsteig ruft etwas, aber er sieht nicht mehr hin. Sie weint und wischt sich die Tränen nicht weg.
    Ob Yassim sie auch eines Tages so küssen wird?, denkt Shirin; eines Tages, wenn sie groß genug sind, um zu heiraten? Sobald sie an ihn denkt, fängt ihr Magen an zu kitzeln, weil er so süß aussieht, so schmal und zart, und seine Augen sind ganz groß und dunkel. Jetzt muss sie nicht weinen, wenn sie von ihm weggeht, aber sobald er sie das erste Mal geküsst hat, und wenn er ihr dann so tief in die Augen sieht, dann wird sie bestimmt weinen, und sie wird die Tränen auch nicht wegwischen.
    Der Zug setzt sich in Bewegung. Der junge Araber sieht sich um, mustert die anderen Fahrgäste; schaut, ob einer ihm etwa blöd kommen will. Sein Blick
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