Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
bleibt auch an dem Mann in dem schwarzen Ledermantel hängen. Der Mann bemerkt den Blick und erwidert ihn, ohne die Augen oder das Handy zu senken. Der Araber macht einen Schritt auf ihn zu. Da öffnet der Mann mit der freien Hand die letzten Knöpfe des Mantels und schlägt die Schöße auseinander. Sein Gesicht leuchtet, als wäre innen drin eine Kerze angezündet worden.
    Der Araber bleibt jäh stehen, starrt auf etwas unter dem Mantel, das Shirin nicht sehen kann. Im selben Moment flackert um ihn herum ein seltsames Licht wie von einem Fotoblitz, erst weiß und dann gelb und rot. Ein Luftstoß schlägt Shirin ins Gesicht, so heftig, dass sie überrascht um Atem ringen muss. Der junge Araber bricht in die Knie, kauert schwankend einen Moment auf dem ruckelnden Boden, dann stürzt er zur Seite. Er zuckt noch ein paar Sekunden mit den Beinen wie ein träumender Hund im Schlaf, und etwas Rotes quillt ihm über die Lippen. Eine Sekunde später rührt er sich nicht mehr.
    Jetzt kann Shirin den Mann in dem schwarzen Ledermantel wieder sehen. Rauch steigt von seinem Bauch auf, und kleine Flämmchen tanzen über seine Brust. Sein Gesicht ist verzerrt vor Schmerzen, aber auch verwirrt. Er sieht an sich herunter auf etwas, das er vor dem Bauch trägt, flache braune Pakete und runde rote Stäbe an einem Gürtel. Einer der Stäbe hängt in verkohlten Fetzen von dem Gürtel, und dahinter ist das Fleisch aufgerissen und blutig. Die Flämmchen hangeln sich von Stab zu Stab, ohne dass etwas passiert. Das Handy bleibt weiter auf den Raum vor ihm gerichtet, filmt, was die anderen Fahrgäste machen.
    Shirin reißt sich die Kopfhörer von den Ohren. Der Mann auf der Bank neben dem reglos daliegenden Araber öffnet den Mund. Er ruft etwas, das sie nicht versteht, und springt auf. Er läuft zur Tür, rüttelt an den starren Griffen. Er knickt in der Hüfte ein, kippt nach vorn und spuckt Blut auf seine Schuhe. Gut, dass Mama das nicht sieht, denkt Shirin erschrocken.
    Der Sicherheitsmann wirft sich zu Boden. Der Mann an der Tür dreht sich um, und ihr scheint, als schaue er sie an, nur sie, und in seinen entsetzt aufgerissenen Augen flackert etwas wie eine graue Motte. Verzweifelt taumelt er zur nächsten Tür. Er blutet auch, aber nur aus einem Ohr. Trotz der weit geöffneten Augen scheint er nichts mehr sehen zu können, denn er dreht sich um sich selbst wie eine verrückte Katze, die ihren eigenen Schwanz fangen will. Die rechte Hand verkrallt sich an seiner Brust. Die Hand ist auch blutig. Die Schreie entstellen sein Gesicht. Die Sehnen an seinem Hals treten hervor, spreizen die Haut zu einem Fächer.
    Shirin steht da wie gelähmt. Sie will sich bewegen, aber sie kann nicht, genau wie die anderen Fahrgäste. Alle starren auf den Mann in dem schwarzen Ledermantel, der immer wieder hektisch auf eine Stelle an dem Gürtel drückt, während der verrückte Katzenmann sich neben dem Mann in der Uniform auf dem Wagenboden wälzt. Das Ohr blutet inzwischen sehr stark. Endlich werden seine Bewegungen langsamer. Er rollt auf den Rücken; er zittert; das Zittern erstirbt.
    Auf einmal hat Shirin Angst, so große Angst, dass sie es für etwas anderes hält, etwas, für das es keinen Namen gibt.
    Die Ratte huscht von der Schulter des Punkers, rennt seinen Arm hinunter und springt auf den Boden, wo sie hin und her flitzt und sich dann in eine Ecke kauert.
    Plötzlich springen alle auf, und eine Frau schreit etwas. Wieder versteht Shirin das Wort nicht. Die Frau schreit weiter, hinter ihr. »Hilfe!«, schreit sie. »O Gott! Eine Bombe! Hilfe! Hilfe …!« Im selben Mo ment kommt der Uniformierte wieder hoch. Er drückt auf einen Knopf in der Wand neben seiner Tür und ruft etwas in das runde Sprechsieb unter dem Knopf, bevor er nach der Pistole an seinem Gürtel greift.
    Der Mann in dem Ledermantel lacht laut. Shirin kann alle seine Zähne sehen und die Zunge, aber als sie genau hinsieht, stellt sie fest, dass er gar nicht lacht; er schreit etwas. Die Hand streckt das Handy vor wie ein Kreuz, mit dem er Ungläubige einschüchtern will. Immer mehr Rauch steigt aus seinem Bauch, und dann gibt es den nächsten weißen Blitz, weiß und gelb und rot wie ein Feuerwerk. Diesmal hört Shirin das Krachen, das den Luftstoß begleitet. Sie spürt, wie ihre Haut anfängt zu kribbeln. Ihre Stirn, der Hals, das ganze Gesicht juckt, als krabbelten Ameisen darüber.
    Was ist das?
    Sie reibt sich die kitzelnde Nase. Ihre Finger werden rot. Der nächste Atemzug ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher