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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt
Autoren: Maarten 't Hart
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Teil 1
Prolog
    Am Dienstag, 14. Mai 1940, legte ein Heringskutter nachmittags um halb fünf in einem Hafenstädtchen am Nieuwe Waterweg ab. An Bord waren sieben Mann Besatzung, ein »Prickenbeißer« (prikkenbijter, Junge, der beim Kabeljaufang die Pricken, eine Art Lamprete, totzubeißen hatte, die als frischer Köder für den Kabeljau verwendet wurden. (Anm. d. Übers.)), eine Engländerin und drei jüdische Ehepaare. Eines der Ehepaare war nach der Kristallnacht aus Deutschland geflohen. Der Mann war ein begabter Geiger. Ein Vetter, selber Bratschist an der Rotterdamer Philharmonie, hatte ihm eine vorübergehende Anstellung bei diesem Orchester besorgt. Der Geiger war noch so jung, daß er, wie man in Rotterdam sagt, »gerade eben über seine Holzschuhe pinkeln kann, aber spielen, unglaublich... er kann seine Geige singen lassen wie eine Nachtigall, die mit Singfutter aufgezogen worden ist...« Bereits drei Wochen später bat ihn ein Gastdirigent, den grippekranken betagten Konzertmeister zu vertreten.
    Die Frau des Geigers war noch jünger. Wer sie einmal gesehen hatte, vergaß sie nicht so leicht. Sie war groß und schlank, sie hatte langes dunkles Haar, sie hatte prachtvolle Zähne, sie hatte ein kleines, willensstarkes Kinn. Doch alles das war nichts gegen ihre hinreißende, tiefe, volle, ein wenig heisere Altstimme.
    Als der geflohene Geiger am 10. Mai 1940 in aller Frühe durch die sonnigen Straßen von Rotterdam schlenderte und mit eigenen Augen sah, wie die Fallschirme jenseits des Flusses friedlich vom Himmel herabschwebten, beschloß er, nochmals zu fliehen. Seine Ehefrau wollte in den Niederlanden bleiben, sie wies auf seine guten Zukunftsaussichten hin.
    »Schon bald wirst du Konzertmeister sein«, sagte sie am zweiten Pfingsttag.
    »Man wird mich niemals offiziell zum Konzertmeister ernennen«, sagte er. »Dazu bin ich noch zu jung. Außerdem würden sich dann mindestens zehn erste Geiger übergangen fühlen. Nein, laß uns so schnell wie möglich nach England fliehen. Simon hat heute früh angerufen (Einzelne Wörter bzw. Sätze, die im niederländischen Originaltext auf deutsch stehen, werden wie hier auch im folgenden jeweils durch Kursivschrift gekennzeichnet. (Anm. d. Übers.)). Er sagt, daß er einen Platz für uns auf einem Heringskutter wüßte. Der kann uns nach Harwich bringen.«
    »Und dann? Dann stehen wir da mit unseren Koffern. Wir kennen niemanden. Was sollen wir dort machen?«
    »Es kommen noch andere Freunde von Simon mit, die gute Kontakte in London zu haben scheinen. Sie würden sich um uns kümmern, hat Simon versprochen. Die Engländer lieben Musik...«
    Sie ließ sich von ihm überreden. Am Dienstagmorgen, 14. Mai, kurz nach halb elf verließ ihr Zug den Bahnhof Delftse Poort. Dadurch entkamen sie dem Bombardement. Als sie am Nachmittag auf dem Waterweg fuhren, sahen sie die riesigen Rauchwolken. Damit war ihr jeder Zweifel genommen, ob es vernünftig sei, nochmals zu fliehen.
    Wenige Stunden, bevor sie die trägen Rauchwolken gewahr wurden, waren sie an den hochgelegenen Mühlen von Schiedam entlanggefahren, vorbei an den Fischlagerhäusern von Vlaardingen und durch frische grüne Polder, die in der strahlenden Maisonne glänzten. In dem Hafenstädtchen wurden sie von dem Pharmazeuten Simon Minderhout abgeholt, der sich hier vor zwei Jahren als Apotheker niedergelassen hatte. Er versäumte kein einziges Konzert des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters. Trotz seines jugendlichen Alters war er bereits im Vorstand des Orchesters. So hatte er das aus Deutschland geflohene Ehepaar kennengelernt. Er hatte sich mit dem Geiger angefreundet. Und nachdem er dessen Frau zum erstenmal gesehen hatte, habe ihm, wie er Jahre später erzählte, »sein Herz nicht in der Kehle, sondern dröhnend im rechten Ohr geklopft«. Immer wenn sie ihm zulächelte, schien es ihm, wie er später formulierte, »als schickte sie mich mit einer Balancierstange über den Waterweg«. Ging er kurz vor Kriegsbeginn in der Abenddämmerung zum Fluß hinunter, wunderte er sich, daß er sich ihr Gesicht nicht vorzustellen vermochte, während er gleichsam als schwachen Trost den salzigen Geruch des Flußwassers einsog.
    Ganz selbstlos war seine Vermittlung bei diesem erneuten Fluchtversuch also nicht: »Wenn sie mir aus den Augen ist, wird sie mir wohl auch aus dem Herzen verschwinden«, hatte er bitter zu sich selbst gesagt, als er sich am zweiten Pfingsttag im Rasierspiegel betrachtete.
    Minderhout kam aus Drenthe,
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