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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt
Autoren: Maarten 't Hart
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hatte aber trotzdem schon persönliche Freunde in dem Hafenstädtchen. Nachdem er eines Samstagabends im Jahr 1939 die Witwe Vroombout, ohne daß eigens ein Arzt kommen mußte, bei einem Asthmaanfall vor dem Ersticken gerettet hatte, wurde er regelmäßig nach dem Kirchgang von der Witwe und ihren beiden Söhnen zu einer Tasse Kaffee und einem Schnaps eingeladen. An Winterabenden spielte er mit Willem Vroombout, dem Schiffer der »Majuba 2«, Dame. Mühelos wurde er von dem Fischer mit »Doppelopfern« und anderen trickreichen Zügen vom Brett gefegt. Danach spielte er mit Arend Vroombout, Matrose auf der »Majuba 2«. Gegen ihn gewann er nach einem meist nervenaufreibenden Endspiel, bei dem nur noch Damen auf dem Brett standen.
    Am Samstag, 11. Mai, dem Samstag vor Pfingsten, war vlaggetjesdag (Festlich begangener Flaggentag vor dem Auslaufen der Heringsflotte. (Anm. d. Übers.)). Wären die Deutschen nicht am 10. Mai ins Land eingefallen, wäre die Heringsflotte am Dienstag, 14. Mai, ausgelaufen. Nach dem deutschen Überfall beschlossen die Reeder, die Heringsflotte im Hafen zu lassen. Da die Witwe Vroombout Eignerin der »Majuba 2.« war, konnte Willem nach Rücksprache mit seiner Mutter selbst entscheiden, ob er ausfahren wollte oder nicht. Schon am Samstag, 11. Mai, beschloß er, doch zu fischen. Simon Minderhout erfuhr davon am ersten Pfingsttag bei der üblichen Tasse Kaffee nach dem Kirchgang.
    Minderhout überlegte eine Weile. Als er seinen Schnaps vorgesetzt bekam, fragte er Willem, ob er eventuell bereit wäre, Flüchtlinge in Harwich oder Hull an Land zu setzen. Schiffer Vroombout nannte einen hohen Betrag; Minderhout meinte darauf, das sei zuviel, und halbierte den Preis. »Das ist ein Judenbakschisch«, sagte Willem Vroombout. Er fügte hinzu, daß er für einen solchen Spottpreis sein Schiff und seine Mannschaft nicht einem derartigen Risiko aussetzen könne. Woraufhin ihm Minderhout, der erst nach dem Krieg wirklich begriff, wie schrecklich es gewesen war, das Wort »Judenbakschisch« zu verwenden, vorschlug, für den zuerst genannten Betrag mehr Flüchtlinge mitzunehmen. Dem stimmte Vroombout zu. Minderhout telefonierte am Tag darauf frühmorgens zuerst mit einem jüdischen Studienfreund und danach mit dem Geiger. Und anschließend besuchte er in dem Hafenstädtchen noch ein jüdisches Ehepaar, von dem er wußte, daß beide Todesangst vor Hitler hatten. Außerdem ging er am zweiten Pfingsttag auch zu einer Engländerin, die in Hull einen niederländischen Lotsen kennengelernt hatte. Sie war in England mit dem Lotsen getraut worden. Anschließend war sie zu ihm in die Niederlande gekommen. Nach zwei Jahren war ihr Ehemann mit einem niederländischen Mädchen durchgebrannt. Seitdem erwähnte die Engländerin manchmal, daß sie plane, nach Hull zurückzukehren. »Das ist deine Chance«, sagte Minderhout. »Ja«, sagte sie.
    Am Dienstag nachmittag, 14. Mai, standen die sieben Flüchtlinge an der Kade, dem Kai des Außenhafens. Sie stellten einander vor und gingen dann an Bord der »Majuba 2.«.
    »Am Samstag ist das Lotsenboot bei Schiedam auf eine Mine gelaufen«, sagte der Prickenbeißer auf dem Vordeck nervös.
    »Ja, und zehn sind dabei ertrunken«, sagte Robbemond ruhig.
    »Also, dann...«, fing der Prickenbeißer an.
    »Warum gehst du nicht zu Muttern zurück, hier hält dich keiner, wir brauchen dich überhaupt nicht, wir fahren ja nicht auf Kabeljau oder Stockfisch«, sagte Robbemond.
    Schiffer Vroombout kam hinzu. Er fragte: »Was ist los?«
    »Unser Prickenbeißerchen hat Angst vor Minen«, sagte Robbemond.
    »Ja, es scheint voll davon zu liegen«, sagte Vroombout.
    »Meinst du, daß du sie umfahren kannst?« fragte Robbemond.
    »Ich glaube schon«, sagte Vroombout, »die Minen liegen in der Fahrrinne. Wenn wir nah an Land kreuzen - und das geht, denn wir haben nicht geladen -, kann uns nichts passieren. Um halb fünf ist Flut, wir können also unterhalb von Rozenburg fahren.«
    Sie fuhren an der Insel Rozenburg vorbei. Die Flüchtlinge starrten auf die blühenden Heckenrosen an der Deichböschung dieses Erdbeer- und Kartoffelparadieses, das erst später, in Friedenszeiten, vollständig zerstört werden sollte. Sie konnten von diesem Paradies nur den hohen Deich und die niedrigen Dächer der Häuser sehen, die auf der Landseite der Deichböschungen gebaut worden waren. Sie sogen die Luft des salzigen Wassers ein, sahen Schwärme von Uferläufern unter einem hellen, diesigen blauen
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