Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
 
PROLOG
----
    Salon de Crau en Provence, Frankreich, 1554
     
     
    Doktor Michel de Nostradamus, der die Zukunft zu schauen vermochte, saß in seinem Geheimkabinett und besah sich, wie die Welt ihr Ende nehmen sollte.
    Das Ende der Welt lag über das Schreibpult des Propheten ausgebreitet – einhundert Bilder der Vernichtung, jedes Bild auf ein Stück Glas gemalt, nicht größer als eine Tarot-Karte. Mit äußerster Behutsamkeit verteilte er die zerbrechlichen Meisterwerke um, ordnete sie, als wollte er ihnen eine bühnengerechte Folge geben, zu dramatischen Aufreihungen. Was kam an erster Stelle? sann er. Die Eisenwale? Die Feuersäulen? Die gewaltigen Speere, die aus eigener Kraft flogen?
    Gegen Spätnachmittag befanden die Malereien sich in der rechten Reihenfolge, und Nostradamus schickte sich an, zu ihrer Begleitung die einhundert Kommentare abzufassen. Er öffnete das Fenster, atmete durch die Nasenflügel köstliche Frischluft ein.
    Tulpengärten. Vom Sonnenschein gleichsam mit Butter bestrichene Kleewiesen. Bröckelige weiße Landhäuschen. Inmitten der mit Nektar vollen Blüten eines Kirschbaums zirpte ein Fink. Schliche nunmehr nur eine Katze des Wegs, dachte der Prophet, dann könnte ich mich wohl an meine Aufgabe machen.
    Er konsultierte des Finken Zukunft. Keine Katzen. Der Vogel durfte an Altersschwäche verscheiden.
    Der Doktor zog einen Vorhang vors Fenster, entzündete sieben Kerzen, tauchte seine Krähen-Schreibfeder in einen mit Tinte gefüllten Totenschädel und begann zu schreiben. Die unerbittliche, schauerliche Düsternis der Kammer beflügelte seinen Geist. Worte strömten wie Blut aus einer zerschnittenen Ader aus Nostradamus’ Feder; die Federspitze kratzte übers Pergament. Kurz vor Mitternacht vollendete er den letzten Kommentar. Die dazugehörige Miniatur zeigte einen Bärtigen, der allein in einer grenzenlosen Ebene aus Eis stand. Und so trifft unser Held, schrieb der Prophet, der letzte aller Sterblichen, seine Anstalten, an den Busen unseres Herrn heimzukehren. Dies sind die wahrhaftigen Tatsachen der kommenden Historia.
    Das dunkle Eichenholz des Schreibpults hatte die Glasmalerei in einen Spiegel verwandelt. Dem Eisfeld schienen des Propheten rabenschwarze Augen, seine Knollennase und das schwarze Dickicht seines Vollbarts eingraviert zu sein, die ein Antlitz ergaben, das sein Eheweib dennoch liebte. Anne wird mein Schreibgemach alsbald betreten, erkannte er. Sie wird mir etwas höchst Ärgerliches vermelden. Drunten wartet auf mich eine Schwangere. Das Weib leidet Wehen. Das Weib wünscht…
    »Das Weibsbild wünscht meinen Beistand«, sagte Nostradamus, sobald seine Gemahlin, genau wie vorausgesehen, sich in seine Schreibkammer Einlaß verschafft hatte.
    Anne Pons Gemmelle schenkte ihm ein unbestimmtes Lächeln. »Sarah Mirabeau ist die ganze Strecke von Tarascon hergereist.«
    »Und ihr Gatte…?«
    »Ihr ermangelt der Gatte.«
    »Gib Sarah Mirabeau Kunde, daß ich eine leichte Geburt, einen kräftigen kleinen Bankert sowie für alle Beteiligten eine glückliche Zukunft schaue. Gib ihr des weiteren Bescheid, ich sehe für den Fall fernerer Belästigung durch ihre Person voraus, daß ich meine Geduld verliere« – der Prophet schwang seine Malakkastöckchen – »und sie auf die Straße werfe.«
    »Und was siehst du in Wahrheit voraus?«
    »Alles bleibt reichlich nebelhaft.«
    »Sarah Mirabeau ist nicht um des Wahrsagens willen gekommen. Sie ist da, weil…«
    »Weil ich Arzt bin? Bestelle ihr, bei einer Hebamme wäre sie klüger aufgehoben.«
    Indem sie die Lider schloß und sich eine Widerrede verkniff, bewahrte Anne die Ruhe. »Die Tarasconer Hebammen mögen keiner Jüdin beistehen«, erklärte sie bedächtig.
    »Wogegen ich es tu?«
    »Ich habe der Frau beteuert, daß du seit langem kein Jude mehr bist.«
    »Vorzüglich. Hast du ihr meine Taufurkunde vorgelegt? Nein halt, ich sehe vorher, du wirst mir antworten, daß du…«
    »Daß ich es fürwahr getan habe, doch sie…«
    »Sie ließ sich davon nicht überzeugen. Nun denn, so richte dieser Hudelmetz aus, daß ich mein Lebtag noch keine Mutter des Kinds entbunden habe. Bedeute ihr, daß seit jüngstem alle Medizinerei, die ich noch praktiziere, der Bestimmung gilt, die Angesichter gealterter Edeldamen der Falten zu entledigen.«
    »Sie ist keine Hudelmetz. Ihr Ehegatte ist vor hundert Tagen an…«
    »An der Pest verstorben«, sprach der Prophet den Satz zu Ende.
    »Die Witfrau glaubt, du hättest ihn zu heilen vermocht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher