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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt
Autoren: Maarten 't Hart
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meine Mutter benutzte oft das Wort »Schwung« im Sinne von »viel«. »Da hab ich wieder einen Schwung Kartoffeln geschält.«
    An »pusseln« und »Schwung« wurde deutlich, daß meine Eltern anfingen, die Sprache vom Hoofd zu sprechen. Aber sie konnten, wie mein Vater oft bedauernd sagte, »ihren Hintern hier noch nicht richtig wärmen«. Meine Mutter fügte verdrießlich hinzu: »Das ist mir schnuppe.« Oft murmelte mein Vater nach weniger gelungenen Transaktionen: »Hier lernst du erst mal: Mache dich vertraut, aber vertraue niemandem!«, und mit schöner Regelmäßigkeit hieß es: »Wären wir nur in Rotterdam geblieben, hier ist es ein ewiges Auf und Ab.« Darauf sagte meine Mutter trocken: »Ja, aber wir mußten da weg.«
    »Ja, verdammt schade«, sagte mein Vater, »denn die werden uns hier immer schief angucken!«
    »Ja«, sagte meine Mutter dann, »wir sind den Leuten hier nicht gut genug.«
    Da blickte mein Vater mich an und sagte: »Aber, Muttern, du mußt zugeben, daß der Herr uns, bevor wir uns hierher verziehen mußten, noch ein aposteltje geschenkt hat, ich schon Ende Vierzig, du gerade vierzig, und doch noch so ein aposteltje, wer hätte je davon träumen mögen, wir hatten schon zwanzig Jahre darum gebetet, wir beteten nicht einmal mehr darum, und dann doch noch...«
    Wenn mein Vater das gesagt hatte, betrachtete er gewöhnlich eine Zeitlang die blauen Adern auf seinen Handrücken und sagte dann: »Nur schade, daß wir ihn nicht »erneuert« haben taufen lassen können.«
    In all den Jahren meiner Kindheit blieb das ein Kummer. In Rotterdam waren meine Eltern Mitglieder der »erneuerten« evangelisch-lutherischen Gemeinde gewesen, aber im Hoofd fehlte eine solche Religionsgemeinschaft. Deshalb waren meine Eltern nach ihrem Umzug dann in Ermangelung eines Besseren »reformiert« geworden. »Viel lieber wäre ich ›erneuert‹ geblieben«, sagte mein Vater immer, »denn die Reformierten - na ja, ich will nichts Schlechtes über sie sagen: Gewöhnliche Muscheln gehen nun einmal schneller weg als Austern, und, ach, es ist wahr, auch ihre guten Sachen sind irgendwann abgetragen und landen bei mir, und im übrigen sind sie ganz brav.«
    Letzteres mochte für die Teerjacken gelten, die selten oder nie auf die offene See hinausfuhren, aber es galt nicht für ihre Nachkommen, für die gassies, die die Straßen im Hoofd unsicher machten. Da die Teerjacken und die »Schürzen« meine Eltern weiterhin schief ansahen und sie schlichtweg als »Import« bezeichneten, fand ihre Nachkommenschaft, daß sie mich soviel wie möglich quälen, triezen und piesacken müßte. Wenn ich mich auf die Straße wagte, kamen sie in Schlachtordnung aus der Generaal de Wetstraat angerannt, um mir eine blutige Nase, ein blaues Auge oder aufgeschlagene Knie zu verpassen. Jeder Schulweg hin oder zurück war ein Wagnis. Meist rannte ich kurz vor Schulbeginn, wenn die gassies schon längst auf dem Schulhof waren, durch die leeren Straßen zur Boone-Schule. Und als ich in der dritten, vierten, fünften und sechsten Klasse war, wurde - nach Fürsprache von juut Vroombout - eine besondere Regelung getroffen. In all den Jahren durfte ich fünf Minuten, bevor die Schulglocke um vier Uhr läutete, die Schule verlassen, so daß ich durch die noch leeren Straßen nach Hause sausen konnte.
    Hätte juut Vroombout sich nicht meiner angenommen, dann hätte vielleicht Exodus 2., Vers 6 (»und siehe, das Knäblein weinte«) tagaus, tagein für mich gegolten. Dank seiner konnte ich mich ab und an auf die Straße wagen, konnte manchmal sogar über die glatten Basaltblöcke an der Uferböschung dem Waterweg klettern. Er war fast immer in der Nähe; er hat mich viele Male gerettet, wenn die gassies mich bedrängten.
    Juut Vroombout war ein stattlicher, muskulöser Mann von etwa dreißig Jahren. Sein Dienstfahrrad neben sich, schritt er durch die Straßen vom Hoofd, und wenn wir einander begegneten, lächelte er mich immer lange an, so daß ich mich irgendwie genierte. Auch die gassies sahen dieses Lächeln und nannten mich daraufhin verächtlich: »Der kleine Liebling vom juut!«
    So wurde ich von ihnen auch an jenem Tag im Sommer 1952. genannt, an dem sie mich fast ertränkt hätten. Ich erinnere mich noch genau, daß Lehrer Mollema am Morgen dieses Tages aus der Bibel über Moses' Rückkehr nach Ägypten vorlas. Eine Bibelstelle spukte mir den ganzen Tag im Kopf herum.
    »Unterwegs aber, da wo er übernachtete, trat ihm der Herr entgegen und suchte
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