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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier
Autoren: Helen Dunmore
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Erstes Kapitel

    I ndigo bei Nacht. Doch die Dunkelheit ist nicht vollkommen. Der Mond steht hoch am Himmel und wirft genug Licht, um dem Wasser eine tiefblaue unergründliche Färbung zu verleihen.
    Ich bin in Indigo und schwimme durch das mondbeschienene Wasser. Faro muss irgendwo in der Nähe sein, da bin ich ganz sicher. Ich kann ihn zwar nicht sehen, doch empfinde ich keine Angst. Es ist hell genug, um sich orientieren zu können. Vor mir schimmert ein Felsen auf und ein grünlich silberner Makrelenschwarm zieht vorüber.
    Wäre ich unter Wasser von völliger Dunkelheit umgeben, ich würde in Panik geraten. Doch in Indigo ist jede Panik gefährlich. An das Atmen darf man keinen Gedanken verschwenden. Erst wenn man vergessen hat, dass Menschen unter Wasser eigentlich nicht existieren können, entdeckt man, dass es dennoch möglich ist.
    Ich weiß genau, dass Faro eben noch hier war. Keine Ahnung, warum er sich versteckt hält. Selbst bei völliger Dunkelheit würde er mich vermutlich sehen können. Faro ist ein Mer und gehört hierher. Indigo ist sein Zuhause. Ich bin ein Mensch und habe hier nichts verloren.
    Aber so einfach ist es nicht, denn ich trage noch etwas anderes in mir: das Mer-Blut, das mein Bruder und ich von unseren Vorfahren geerbt haben. Es ist mein Mer-Blut, das
mich nach Indigo zieht, unter die Wasseroberfläche. Ohne mein Mer-Blut wäre ich längst ertrunken – aber darüber sollte ich lieber nicht nachdenken …
    »Faro?« Niemand antwortet. Dennoch spüre ich, dass er in der Nähe ist. Aber ich werde ihn nicht noch einmal rufen. Er soll bloß nicht glauben, dass ich Angst habe oder ihn unbedingt brauche. Ich kann auch ohne ihn in Indigo überleben. Ich habe es nicht mehr nötig, mich an ihm festzuhalten, wie ich es letztes Jahr getan habe, als ich zum ersten Mal nach Indigo kam. Das Wasser ist angefüllt mit Sauerstoff. Es weiß, wie es mich am Leben hält.
    Ich schwimme weiter. Das Licht ist sehr merkwürdig. Eben schien es mir so, als wäre das Riff gar kein Felsen. Es sah eher wie die Ruine eines großen Gebäudes aus, das vor Tausenden von Jahren aus dem Gestein gehauen wurde. Ich blinzele. Kein Zweifel, es ist ein Riff.
    Wie bin ich hierher gekommen? Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Vielleicht bin ich mitten in der Nacht von einer Stimme geweckt worden, die mich ins Meer gelockt hat. Bin ich etwa allein den Pfad entlanggegangen, über den Felsvorsprung zu unserer Bucht hinuntergeklettert und habe mich heimlich ins Wasser gleiten lassen?
    Sei nicht blöd, Sapphire. Du wohnst doch gar nicht mehr in deinem alten Haus. Ihr seid aus Senara weggezogen. Du wohnst jetzt in St. Pirans, zusammen mit Mum, Conor und Sadie. Und Roger ist immer in der Nähe. Wie konntest du das nur vergessen?
    Wie bin ich also hierher gekommen? Ich muss den Polquidden Beach aufgesucht und von dort aus ins Meer gegangen sein. Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich lag im Bett und war drauf und dran einzuschlafen, als ich plötzlich das Gefühl
hatte, Indigo würde mich zu sich rufen. Dieser Ruf ist so unwiderstehlich, dass ich ihn mit jeder Zelle meines Körpers beantworten muss. Indigo erwartete mich. Ich wusste, dass ich in der Lage sein würde, die Haut des Wassers zu durchdringen und tief hinabzutauchen. Ich wusste, dass ich mich mit den Strömungen durch die Unterwasserwelt treiben lassen würde, die so merkwürdig und rätselhaft und doch schon mein zweites Zuhause geworden ist.
    Ja, jetzt fällt mir wieder ein, wie ich meine Jeans und meinen Kapuzenpullover angezogen habe und die Treppe hinuntergeschlichen bin. Verstohlen habe ich die Haustür aufgeschlossen und bin dann zum Polquidden Beach hinuntergerannt, wo das Wasser im Mondlicht glitzerte und die Stimme von Indigo so eindringlich war, dass ich nichts anderes mehr hörte.
    Und jetzt bin ich wieder in Indigo. Seit wir nach St. Pirans gezogen sind, habe ich versucht, hierher zurückzukehren, doch erst heute Nacht ist es mir gelungen. In St. Pirans ist zu viel Trubel. All die Leute, Geschäfte, Cafés und Parkplätze. Doch nachts ist es anders. Vielleicht ist die Dunkelheit wie ein Schlüssel, der das Schloss zu Indigo öffnet.
    »Hallo, kleine Schwester.«
    »Faro!«
    Ich drehe mich in einem Wasserwirbel, und da ist er.
    »Faro! Wo bist du gewesen? Warum hast du dich so lange nicht blicken lassen?«
    Er nimmt meine Hand. Selbst im Mondlicht erkenne ich sein spöttisches Lächeln, das mir so vertraut ist.
    »Jetzt bin ich ja da, oder? Alles andere spielt
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