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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier
Autoren: Helen Dunmore
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ausgesehen. Ich will darüber nicht nachdenken. Ich will diese Erinnerung aus meinem Gedächtnis streichen.

Zweites Kapitel

    E s ist helllichter Tag. Bei Tageslicht verdunstet alles, was nachts groß und erschreckend erscheint, wie eine Pfütze im Sonnenschein.
    Ich bin mit Sadie am Strand. Mum ist bei der Arbeit, aber weil Samstag ist, habe ich keine Schule. Ich habe das Badezimmer geputzt und das Wohnzimmer gesaugt, und jetzt kann ich tun und lassen, was ich will.
    Mit Sadie ist es wie mit dem Tageslicht. Wenn ich ihr warmes, goldenes Fell streichle, ist aller Kummer verflogen. Sie sieht mich fragend an und wedelt mit dem Schwanz. Wir stehen auf der letzten der Stufen, die zum Polquidden Beach hinunterführen. Werde ich sie frei laufen lassen?
    Ja, das werde ich. Hunde haben ab dem 1. Oktober freien Zugang zum Strand, und jetzt ist Mitte November. Doch weil Sadie ein gutes Gedächtnis hat, zögert sie. Sie erinnert sich daran, dass sie nicht an den Strand durfte, als wir im September nach St. Pirans gezogen sind. Das Verbot besteht jedes Jahr von April bis Ende September, wenn die meisten Touristen hier sind. Ich finde das ungerecht, doch Mum sagt, dass man den Leuten nicht zumuten kann, einen verunreinigten Strand zu benutzen.
    Ich muss es Sadie also jedes Jahr aufs Neue erklären: »Ich weiß, wie gerne du durch den Sand läufst, Sadie, aber leider geht das jetzt nicht.« Je näher ich sie kennenlerne, umso
klarer wird mir, wie viel sie versteht. Auf Worte ist sie nicht angewiesen. An der Art und Weise, wie ich das Zimmer betrete, erkennt sie schon meine Laune.
    Jetzt zittert sie vor Aufregung, wartet aber geduldig auf der letzten Stufe.
    »Na, lauf schon, mein Mädchen! Jetzt darfst du dich überall frei bewegen.« Sadie streckt sich und macht aus reinem Übermut einen Sprung, ehe sie mit voller Konzentration eine Möwe im Zickzack über den Strand jagt. Sie hat noch nie eine Möwe erwischt, und ich bin mir sicher, die Möwe weiß das. Sie hält Sadie zum Narren, ärgert sie, gleitet im Tiefflug über den Sand, um im letzten Moment steil in die Luft zu steigen.
    Meinetwegen kann Sadie so weit laufen, wie sie will. Ich weiß, dass sie zurückkommt, wenn ich sie rufe. Außerdem will ich, dass sie frei ist.
    Seit wir nach St. Pirans gezogen sind, habe ich diesen Traum – nicht jede Nacht, nicht einmal jede Woche, doch oft genug, um hin und wieder Angst vor dem Einschlafen zu haben. Im Traum bin ich in einem Käfig gefangen. Zunächst macht mir das keine großen Sorgen, denn die Gitterstäbe sind weit voneinander entfernt, und es dürfte kein Problem sein, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Doch sobald ich mich auf sie zubewege, rücken sie enger zusammen. Ich versuche, mich langsam und wie zufällig zu bewegen, damit der Käfig nicht merkt, was ich vorhabe, doch jedes Mal sind die Stäbe schneller als ich. Als wäre der Käfig lebendig und wüsste, dass ich fliehen will.
    Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir wirklich hier in St. Pirans leben. Haben wir unser Haus für immer verlassen? Senara und unsere Bucht und alle Plätze, die wir lieben?
Conor und ich sind in diesem Haus geboren worden, in Mums und Dads Schlafzimmer. Wie kann man nur das Haus verlassen, in dem man geboren wurde?
    Mum hat versprochen, dass sie es niemals verkaufen wird, doch sie hat es vermietet. Mit dem Geld, das wir dafür kassieren, haben wir das Haus in St. Pirans gemietet, einem Ort, mit dem uns nichts verbindet.
    Für mich ist die Entscheidung völlig verrückt, aber die Erwachsenen haben natürlich immer für alles gute Gründe:
    In der Stadt werdet ihr so viele neue Freunde gewinnen!
    Ihr könnt ins Kino und ins Schwimmbad gehen.
    In St. Pirans gibt es wunderbare Geschäfte, Sapphy.
    Wieso sollte man ins Schwimmbad gehen, wenn man direkt am Meer lebt? Schwimmbäder sind langweilig, haben künstliches blaues Wasser und stinken nach Chlor. Das Wasser ist völlig tot, weil so viele Chemikalien hineingekippt werden. Wenn man einen Wassertropfen aus einem Schwimmbecken unter das Mikroskop legt, sieht man gar nichts – höchstens ein paar Bakterien. Aber das Meer ist lebendig und jeder einzelne Tropfen voller Leben.
    In St. Pirans ist sogar das Meer voller Menschen. Derzeit ist es ruhiger, weil die Badesaison vorbei ist, doch jeder spricht schon davon: Wartet nur, bis es Sommer wird. Im August muss man froh sein, wenn man am Strand überhaupt noch ein Fleckchen für sein Handtuch findet. Es gibt vier Strände und einen Hafen sowie
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