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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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Eins »Ich möchte über STC schreiben«, sagte der junge Mann, der — außerhalb der
Sprechstundenzeiten — in meine Kammer einfiel wie eine biblische Plage. Kein
Schwarm, nur eine einzelne Heuschrecke, aber die hatte es in sich.
    Es war vor knapp sechs Monaten,
in der dritten Dezemberwoche des Jahres 1996, die meisten Studierenden waren
längst zu Hause, und ich nutzte die Ruhe am Institut, um einen Gastvortrag für
Bristol über die Songs of Innocence and Experience * fertigzuschreiben. Die Wintersonne warf ihr Licht durch die
Jalousien auf meinen Schreibtisch, alles leuchtete gestreift, meine Papiere,
der Plastikbecher mit dem Automatenkaffee, die angebissene Cremeschnitte, sogar
der Rauch, der von meiner Zigarette hochstieg. Als wäre der Geist William
Blakes mit einem gelben Pinsel durch mein Zimmer gegangen, um mich daran zu
erinnern, daß hinter jeder friedvollen Idylle ein Tiger lauert.
    »Es-ti-si«, hatte der junge
Mann gesagt, und während etwas in mir sich noch darüber ärgerte, daß dieser Eindringling
nicht einmal grüßen konnte, versuchte ich herauszufinden, was oder wer gemeint
sein könnte. Die Wirkung einer Designerdroge auf die Londoner
Undergroundliteratur? Die sozialkritischen Songtexte einer australischen
Popgruppe? Gib dir keine Blöße, sagte ich mir, und so antwortete ich nicht:
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sondern: »Ich weiß nicht, ob ich für
dieses Thema der richtige Betreuer bin. Und übrigens: Guten Tag.«
    »Doch, guten Tag, doch,
sicher«, es sprudelte nur so heraus aus meinem ungebetenen Gast, »ich habe
gehört, wie Sie über Wordsworth gesagt haben, er sei der biedere Illustrator
eines großbürgerlichen Naturgefühls, da hab ich gewußt, Sie sind mein Mann.« So
etwas sollte ich gesagt haben? Gedacht ja, aber gesagt — in einer Vorlesung?
Und außerdem, was hatte Wordsworth zu tun mit diesem Es-ti-si, ach so,
natürlich, wie blöd von mir — und wie anmaßend von diesem Schnösel, ihn so zu
nennen! Es war wie der berühmte Blitz in der Nacht, einen Moment lang leuchtete
alles auf, der Pleasure Dome über den Eishöhlen, ein Regenbogen aus
Wasserschlangen im Schatten eines Schiffs — ogott, Coleridge, dachte ich, jetzt
holt er mich ein. Ich war ihm aus dem Weg gegangen, soweit es mein Beruf zuließ
— kursorische Behandlung in den obligatorischen Einführungsvorlesungen,
nüchterne Verweise auf die Wichtigkeit seiner Lyrik für die nachfolgende
Generation, Geburts- und Todesjahr als abfragbare Daten bei Prüfungen, das
war’s. Coleridge, das Gespenst, das mich erinnerte an das andere Leben, das ich
hätte führen können — jahrelang hatte es still Mahnwache gehalten vor meinem
Haus, jetzt klopfte es an die Tür.
    »Nun — was halten Sie davon?«
Er mußte wohl weitergeredet haben, mir sein Konzept erläutert haben, seinen
ganz speziellen Ansatz oder etwas Ähnliches. Ich wollte mir nicht anmerken
lassen, daß ich nicht zugehört hatte.
    Leise antwortete ich: »Es geht
nicht.«
    Das war, ohne daß ich es
beabsichtigt hatte, ein Punkt für mich. Er hatte sich wahrscheinlich alle
möglichen abwehrenden Antworten ausgemalt, eloquente und scharfsichtige
Entlarvungen der Schwachstellen seines Entwurfs, irgend etwas, wogegen er
seinerseits wieder argumentieren konnte — aber auf diese knappe Antwort war er
nicht vorbereitet. Zum ersten Mal, seit er meine Winternachmittagsruhe
unterbrochen hatte, schwieg er. Dümmlich sah er aus, mit seinem halboffenen
Mund und den gelben Streifen im Gesicht.
    Ich bot ihm einen Bissen von
meiner Cremeschnitte an, er starrte auf das Ding auf dem Teller, als hätte ich
ihm gerade bewiesen, daß es auch auf dem Mars Mehlspeisen gibt. Wunderbar,
dachte ich, das Weltall ist auf meiner Seite, Angriff der Killercremeschnitten,
über und über mit kosmischer Zuckermasse beschmiert wirst du nach Hause
kriechen, Jüngelchen, mitsamt deinem Es-ti-si —
    da
ging die Tür auf, und ich sah zum ersten Mal Anna. »Entschuldigen Sie, ich
möchte nicht stören« — Blick auf mich, fast rutschte mir die Schnitte vom
Teller — , »aber ich wollte nur fragen«, zu ihm, eine Hand auf seine Schulter
gelegt, »brauchst du noch lang?«
    »Du störst«, sagte er und schob
ihre Hand weg.
    »Du hoffentlich nicht«, sagte
sie und schaute mich schon wieder an.

Zwei Begonnen
hatte es vor 29 Jahren, in einem vielversprechenden Herbst, als ich als
Neunzehnjähriger in einem Berliner Antiquariat auf eine Anthologie mit dem
Titel Gedichte der Englischen
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